Grüße aus aller Welt Als Auswanderin auf Zeit nach Süd-Chile gezogen

Joanna Bieberstein ist keine typische Aussteigerin, nimmt sich aber ein Jahr Auszeit vom normalen Alltag und unterrichtet an einer Schule in Chile Deutsch als Fremdsprache.

 Lehrerin Joanna Bieberstein auf dem Weg zur Arbeit: Statt mit Auto oder Fahrrad ist sie unter anderem mit der Fähre unterwegs. Eine Schwimmweste muss immer angezogen werden.

Lehrerin Joanna Bieberstein auf dem Weg zur Arbeit: Statt mit Auto oder Fahrrad ist sie unter anderem mit der Fähre unterwegs. Eine Schwimmweste muss immer angezogen werden.

Foto: on

Für ein Jahr hat es mich nach Südamerika verschlagen. Ich bin Lehrerin am Helmholtz-Gymnasium in Hilden, wohne in Zons und lebe seit August in Temuco, in der Region Araucania etwa 700 Kilometer südlich von Santiago de Chile.

Ich verbringe hier mein Sabbatjahr, in dem ich an der Deutschen Schule Temuco, dem "Colegio Alemàn", als Vertretungskraft in der Fachschaft zwölf Wochenstunden Deutsch unterrichte. Es handelt sich um eine Begegnungsschule, in der Deutsch nur als Fremdsprache, allerdings mit sechs Wochenstunden und vom Kindergarten bis zur Klasse 12 ("cuartero media") unterrichtet wird. Jedes Jahr müssen die deutschen Sprachdiplomprüfungen DSD I und II absolviert werden.

Die Gründung der deutschen Schulen in Süd-Chile geht auf die ersten, süddeutschen Siedler im 19. Jahrhundert zurück, wie zum Beispiel Carl Anwandter, der 1851 in Valdivia das "Instituto Alemán Carlos Anwandter" gründete - und zwar als eine Schule, die sowohl auf das Leben in Chile vorbereiten, als auch die deutsche Sprache und die Tradition bewahren sollte.

Davon ist heute freilich nicht sehr viel übrig. Die meisten der etwa 1000 Schüler kommen aus Familien, die zwar oft einen deutschen Namen tragen, aber zu Hause nicht mehr Deutsch sprechen. Sie müssen die Sprache genauso wie Englisch richtig pauken. Die wenigen Familien, in denen die Großeltern und zum Teil die Eltern noch Deutsch sprechen, kamen nach dem Zweiten Weltkrieg nach Chile. Die Generation der Enkel, die nun meine Schüler sind, tut sich mit der Sprache genauso schwer wie ich mit ihrem "Castellano".

Eine große Motivation für das Bestehen der Sprachprüfungen bildet die große Deutschlandrundreise, die jedes Jahr im Dezember während der langen Sommerferien in Chile stattfindet. Anschließend verbringen die Schüler noch zwei Monate in verschiedenen Gastfamilien, die überall im Land verstreut sind, und bleiben somit auf sich und ihre Sprachkenntnisse alleine gestellt.

Der Schulalltag ist hart und lang. Er beginnt für alle um 7.45 Uhr und endet zuerst nach der siebten Stunde um 13.30 Uhr mit einer Mittagspause. Diese verbringen alle außerhalb, meistens zu Hause. Viele Schüler werden dann von den Eltern, die ebenfalls Mittagspause machen, abgeholt.

Das Essen zu Hause wird von einer "Nana", einer Haushalterin, die ein unabdingbarer Teil eines jeden Haushalts darstellt, zubereitet. Während des Vormittags gibt es nur zwei Pausen à 15 Minuten, in denen es einem Kind sehr schwer fallen muss, zu entscheiden, was es tun soll - auf die Toilette gehen, frühstücken oder mit den Freunden spielen?

Der Nachmittagsunterricht beginnt um 15.15 Uhr und umfasst je nach Alter der Schüler zwei bis vier Stunden Fachunterricht. Für die Kindergartenkinder und für die Grundschüler werden am Nachmittag verschiedenen Arbeitsgemeinschaften angeboten. Der Dienstag ist ein Konferenztag, so dass nachmittags nur eine Stunde Förderunterricht stattfindet. Viele Schüler nutzen diesen Tag für Sport oder Nachhilfe.

Die Wochenenden verbringen die meisten Familien der deutschen Schulgemeinde auf dem Lande, wo sich ihre Familienlandsitze ("Fundos") befinden. Dort trifft sich meist die Großfamilie, um zusammen Sport (Reiten oder Skifahren) zu treiben und zu feiern. Da merkt man schon, dass es sich um eine recht privilegierte Schicht der chilenischen Gesellschaft handelt, die überdurchschnittlich verdient und weitestgehend unter sich bleibt.

Blick auf das Zentrum von Temuco vom Naturmonument "Cerro Nielol" aus. Im Hintergrund führt die gelbe Eisenbahnbrücke über den Rio Cautin. Das historische Bauwerk mit elf Bögen und 35 Meter Länge und wurde 1898 fertiggestellt.

Blick auf das Zentrum von Temuco vom Naturmonument "Cerro Nielol" aus. Im Hintergrund führt die gelbe Eisenbahnbrücke über den Rio Cautin. Das historische Bauwerk mit elf Bögen und 35 Meter Länge und wurde 1898 fertiggestellt.

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Dies spiegelt sich auch räumlich in den unterschiedlichen Stadtvierteln wider. Der Versuch, die sozialen Unterschiede mit Hilfe einer Schuluniform zu nivellieren, hat sich im Schulalltag zwar bewährt, aber bestimmt nicht als Teil der Landesstrategie "Nosotros somos todos chilenos".

Übrigens tragen auch viele Lehrer weiße Kittel oder Einheitsjacken mit Schullogo, um entweder eigene Kleidung zu schonen oder um keine Rückschlüsse auf die wirtschaftlichen Verhältnisse oder die soziale Herkunft zu ermöglichen. Deshalb sind die Lehrkräfte aus Deutschland hier oft ein Farbtupfer.

Temuco ist eine Stadt mit etwa 300 000 Einwohnern und zählt zu den sich wirtschaftlich am schnellsten entwickelten Städten Chiles. Aber es ist auch die Hauptstadt einer Region mit dem höchsten Anteil an indigener Bevölkerung und mit dem höchsten Armutsindex. Hier gibt es viele Probleme wie die Landrückgabe an die Mapuche-Indianer oder Wasserdefizite, die eigentlich auf der Landesebene gelöst werden müssten, sich jedoch lokal abspielen und von Zeit zu Zeit eskalieren.

Die durchschnittlichen Monatseinkommen der Haushalte sind mit 320 000 Pesos die zweitniedrigsten im Land und entsprechen nicht einmal dem, was ich als Aufwandsentschädigung für meine Arbeit bekomme. Da die Lebensunterhaltskosten in vieler Hinsicht, zum Beispiel Miete oder Lebensmittel, denen in Deutschland entsprechen, ist für die meisten Chilenen der Alltag eine echte Herausforderung. Weil man die tatsächliche Armut auf den Straßen gar nicht wirklich zu sehen bekommt, halte ich sie für die echten Überlebenskünstler.

Das Leben in Temuco stellt für mich keine solche Herausforderung dar. Die Chilenen, egal welcher Herkunft, sind allesamt sehr freundlich und hilfsbereit, so dass ich mich hier vom ersten Tag an sehr wohl und sehr sicher fühle.

Ich besitze zurzeit kein Auto, kein Fahrrad, kein Radio und auch keinen Fernseher, und ich vermisse sie auch nicht. Trotzdem bin ich keine Aussteigerin - höchstens im Sinne meiner studierten Fächer Geografie und Chemie, die ich hier nicht unterrichte. Hingegen der Ausstieg aus der Familie und dem Freundeskreis ist nur räumlich gegeben, denn wir sind Dank des Internets im ständigen Kontakt.

Das Leben in einem südamerikanischen Land ist für mich so spannend wie für andere vielleicht mit dem Rucksack unterwegs zu sein. Ich entdecke jeden Tag mehr, wie das Land tickt, was die Menschen hier glücklich macht und was sie auf die Palme bringt.

Ich fahre mit ihnen in den gleichen Bussen oder "colektivos", werde von den gleichen Flöhen (eine Plage) gebissen, begegne ihnen bei "Omas Brot" oder auf der Feria Libre, beklatsche ebenfalls begeistert das "Ballet folclorico Bafote", nehme teil an den kulturellen Angeboten der Universitäten, feiere gerne ihre Feste wie das "Dieciocho" und bummele durch die traditionellen Märkte auf der "Plaza Theodoro Schmidt". Er, ein Ingenieur aus Darmstadt, war der Gründer von Temuco. Er ist auch hier auf dem "cementario municipal" begraben.

Das Reisen gehört natürlich auch dazu. Ich bin neugierig auf das Land, auf seine Natur- und Kulturschätze, die quasi vor meiner Tür liegen. Temuco liegt etwa 70 Kilometer vom Meer entfernt und genau so weit verläuft die argentinische Grenze entlang der Anden.

Die Entfernungen lassen sich am besten und günstigsten mit dem Bus bewältigen. Schon in einer Stunde ist man entweder am Lago Budi und in Puerto Saarvedra am Pazifik oder am Fuße eines der zahlreichen Vulkane: Llaima, Lonquimay im Norden oder Villarica in Süden.

Bis zur Hauptstadt Santiago de Chile muss man schon mehr "Sitzfleisch" aufbringen, aber im Semicama oder Cama-Komfort der Tourbusse gehen die acht Stunden im Schlaf über Nacht schnell um.

Die Weihnachtszeit in Temuco ist eine Erfahrung besonderer Art, denn es wird mit jedem Tag sommerlicher und die Lust auf Eis und Baden immer größer. Es gibt zwar keine Weihnachtsbeleuchtung, da es am Tage sehr lange hell ist, aber doch schon Weihnachtsdekoration wie Tannenbäume oder Weihnachtsmänner und natürlich gibt es Adventskränze überall dort, wo die deutsche Tradition noch lebendig ist, sprich an der deutschen Schule, in deutschen Läden und Restaurants.

Es werden auch Lebkuchen und andere Weihnachtsplätzchen wie die Aachener Printen verkauft und auch selbst gebacken, wie das meine Vermieterin tut. Ihre oder "Tia Hanne"-Plätzchen sind in Temuco bekannt und werden Kartonweise von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern geordert.

Es riecht also schon seit Wochen nach Weihnachten, aber die Weihnachtsstimmung stellt sich bei mir trotzdem nicht wirklich ein. Ich freue mich jedoch auf den Besuch meiner Familie, die pünktlich zum Heiligen Abend am 24. Dezember gegen 18 Uhr eintreffen wird.

Meine Freunde und Bekannte in Hilden und Dormagen möchte ich auf diesem Wege lieb grüßen.

(RP)
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