Rhein-Kreis Neuss Hungerjahre

Rhein-Kreis Neuss · In den ersten Jahren nach dem Krieg verhungerten auch im heutigen Rhein-Kreis viele Menschen. Vor allem Städter waren vom Hunger betroffen. Für die Überlebenden, die damals Kinder waren, sind die Hungerwinter 1945/46 und 1946/47 bis heute traumatische Erfahrungen. Erst nach der Währungsreform verbesserte sich die Lage merklich.

Rhein-Kreis Neuss: Ruinenlandschaften nach dem Zweiten Weltkrieg
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Aus den Forderungen sprach die pure Verzweiflung. Im März 1946 trafen sich Vertreter der Stadt Neuss, von Industrie, Gewerkschaften, Bauern und Rotem Kreuz unter Vorsitz von Oberbürgermeister Josef Schmitz sowie Oberstadtdirektor Josef Nagel. Es stand eine Krisensitzung an. Hinter der Region lag gerade einer der härtesten Winter der Geschichte. Die Temperaturen waren auf zweistellige Minusgrade gesunken. Und die Versorgung der Bevölkerung hatte sich auch im heutigen Rhein-Kreis praktisch täglich verschlechtert.

Entsprechend konnte es kaum überraschen, dass die Runde an jenem 9. März 1946 in Neuss nur ein Thema kannte: Wie sollte in den kommenden Monaten die Ernährung der Menschen sichergestellt werden? Aus den Antworten sprach jedoch vor allem eines: Ratlosigkeit. Beispielsweise wurde vorgeschlagen, Personenkontrollen an der Stadtgrenze einzuführen. Der Grund: So wollte man Bürger aus Nachbarstädten wie Krefeld hindern, sich in der Quirinusstadt zu versorgen und den Neussern die ohnehin knappen Lebensmittel streitig zu machen.

Gleichwohl, weder diese noch andere Maßnahmen haben geholfen. Eine Hungerkatastrophe ungekannten Ausmaßes ließ sich in der zweiten Hälfte der 40er Jahre auch auf dem Gebiet des heutigen Rhein-Kreises nicht verhindern — zumal im darauffolgenden Sommer eine Kartoffelkäfer-Plage im Raum Neuss die Ernte schädigte und der Winter 1946/47 ebenfalls wieder zu einem der härtesten seit Menschengedenken zählte.

"Die Zahl der Hungertoten ist bis heute unbekannt", bilanziert der Neusser Stadtarchivar Jens Metzdorf, der davon ausgeht, dass viele damals starben. Dabei litten vor allem Kinder und Senioren. "Viele Ältere verzichteten zugunsten der Jüngeren auf ihre Rationen", sagt Metzdorf. Was zur Folge hatte, dass die ohnehin geschwächten Menschen einfachen Krankheiten erlagen.

Dass es zu einer derartigen Hungerkatastrophe kommen würde, war indes direkt nach Kriegsende nicht abzusehen gewesen. Im Frühjahr 1945 waren die Lager der Neusser Lebensmittelindustrie nämlich noch vergleichsweise gut gefüllt gewesen.

Daran erinnert sich auch Dieter Steins. Der Großvater des Neussers besaß mit einem Partner eine Futtermittelfabrik im Neusser Hafen. "Dort gab es Vorräte. Und unsere Familie hatte das Glück, nicht hungern zu müssen", erinnert sich Steins bis heute. Die allgemeine Lage aber verschlechterte sich zusehends. Denn nicht nur die eiskalten Winter sowie der Kartoffelkäfer machten den Menschen zu schaffen. Dazu kam auch eine Infrastruktur, die in Trümmern lag — mit der Konsequenz, dass überlebenswichtige Lieferungen wie etwa zum Heizen benötigte Kohle nur selten Neuss und die anderen Städte und Gemeinden erreichten.

In den Rathäusern wuchs darum die Verzweiflung. Die kommunalen Verwaltungen, die von den Alliierten direkt nach Kriegsende 1945 eingesetzt worden waren, hatten die Verantwortung für die Versorgung der Bevölkerung. Und das kam einer Herausforderung gleich, die stets schwieriger zu bewältigen war.

Dabei mangelte es im Angesicht der sich abzeichnenden Tragödie keineswegs an Fantasie. So gab es in Neuss beispielsweise den Vorschlag, Parks und andere Flächen in der Stadt zu großen Gemüsebeeten umzufunktionieren. Und überdies sollten alle Kühe, die nicht mindestens fünf Liter Milch am Tag gaben, geschlachtet werden.

Allein, solche Maßnahmen nutzten nichts, was im Lauf der Zeit immer tiefere Gräben in der Gesellschaft aufriss. So beschwerte sich der Neusser OB Schmitz 1946, der benachbarte Landkreis Grevenbroich-Neuß weigere sich, den Menschen in der Stadt "die nötige Hilfe zu geben".

Dabei war diese Kritik jedoch zumindest partiell ungerecht. Zwar traf es zu, dass die Ernährungslage in ländlichen Gegenden besser war als in den Städten. Gleichzeitig aber stellte sich gerade im heutigen Rhein-Kreis die Lage weiter Teile der Landbevölkerung ebenfalls als verzweifelt dar. "Die Zahl derer, die in den Fabriken der Städte arbeiteten, lag traditionell hoch", sagt Stephen Schröder vom Kreisarchiv Zons. Auch diesen Menschen, die keine eigene Landwirtschaft hatten (etwa in Dormagen), mangelte es oft am Lebensnotwendigsten. So standen einem erwachsenen "Normalverbraucher" im Herbst 1945 für vier Wochen gerade 400 Gramm Fleisch und 125 Gramm Fett zu. Doch das war zunächst nur eine auf Lebensmittelkarten gedruckte Theorie. Ob der "Normalverbraucher" die Rationen wirklich bekam, stand auf einem anderen Blatt. Wenn die Lebensmittel wegen Lieferengpässen nicht vorrätig waren, ging er leer aus.

Entsprechend groß war die Not. Die Bevölkerung versuchte sich zu helfen, so gut es ging. "Wir haben schon direkt nach Kriegsende als Kinder Lebensmittellager gestürmt", erinnert sich zum Beispiel Martin Kluth, der als Neunjähriger im damals noch selbstständigen Weckhoven aufwuchs. Später strömten dann sprichwörtlich ganze Heerscharen ausgehungerter Städter aufs Land. Die Menschen waren häufig gezwungen, ihre Wertgegenstände wie Familienschmuck einzutauschen, um an etwas Essbares zu kommen und so die eigene Familie vor dem Verhungern zu retten. Gleichzeitig florierte der Schwarzmarkt. Gehandelt wurde mit allem, was sich tauschen ließ. Auch alliierte Soldaten beteiligten sich. Ihre Zigaretten waren als eine Art Ersatzwährung besonders beliebt — ohne dass es den Behörden in der Region gelang, dem Handel Einhalt zu gebieten. Selbst harte Strafen hielten die Menschen nicht davon ab, sich auf dem Schwarzmarkt zu versorgen. In der Folgezeit bildeten sich regelrechte Banden, die mit dem Elend Geschäfte machten.

Auf dem Höhepunkt der Hungerkatastrophe im Winter 1946/47 verurteilte schließlich der in Neuss geborene Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings das illegale Treiben. In seiner berühmten Silvesterpredigt 1946 geißelte Frings die Auswüchse des Schwarzhandels, nachdem er zuvor allerdings auch Verständnis geäußert hatte: "Wir leben in Zeiten, da in der Not der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens notwendig hat."

Damit war das "Fringsen" geboren Und tatsächlich ist diese Passage aus der Rede des Kardinals bis heute im Gedächtnis vieler Deutscher geblieben — wie auch die Erinnerungen an die Jahre der großen Not bei den Zeitzeugen noch lebendig sind. "Die Hungererfahrungen haben sich bei den Menschen, die damals Kinder waren, tief eingeprägt", sagt der Neusser Stadtarchivar Metzdorf.

Erst nach der Währungsreform 1948, als mit der D-Mark ein hartes Zahlungsmittel eingeführt wurde, verbesserte sich die Lage. Es gab wieder Waren zu kaufen. Und Verwaltung sowie Wirtschaft funktionierten ebenfalls besser. Viele Unternehmen, die bereits vor dem Krieg bestanden, erholten sich und boten Arbeit sowie Perspektiven. So auch die Futtermittelfabrik der Neusser Familie Steins. "Mein Vater, der das Glück hatte, den Krieg zu überleben und recht schnell wieder nach Hause zu kommen, übernahm den Betrieb", sagt Dieter Steins.

Die Firma Leonard Geyr im Neusser Hafen bestand bis in die 80er Jahre, ehe sie verkauft wurde. Dabei hat aber auch der pensionierte Lehrer Steins die Entbehrungen der Nachkriegszeit nie vergessen. Das Haus der Familie war stark beschädigt, die Steins konnten erst nach Monaten wieder dort einziehen. Der Alltag kehrte jedenfalls nur langsam zurück.

Und das galt nicht allein für die Lebensumstände der Menschen. Auch der Weg hin zu einer neuen politischen Kultur mit demokratischen Parteien sowie zu einer Aufarbeitung der Vergangenheit war noch lang.

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