Interview mit dem jüdischen Autor Vladimir Vertlib Zunächst etwas Handfestes gelernt

Als Fünfjähriger hat er seine Geburtsstadt verlassen, aber losgelassen hat sie ihn nie. Die Familie des 1966 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg geborenen Schriftstellers Vladimir Vertlib emigrierte 1971 nach Israel, hielt aber sowohl die russische Heimat wie die jüdische Traditionen in Erzählungen lebendig.

Nach einer Odyssee durch mehrere Länder hat sich Vertlib 1981 in Österreich niedergelassen, lebt jetzt in Salzburg. Für seinen jüngsten Roman "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur", in dem er die jüdisch-russische Geschichte einer Emigration erzählt, wurde Vertlib hoch gelobt. Zusammen mit seinem aus Russland nach Deutschland eingewanderten Autorenkollegen Oleg Jurjew eröffnet Vertlib heute die Lesungsreihe zu den "Jüdischen Kulturtagen" in der Stadtbibliothek. NGZ-Kulturredakteurin Helga Bittner sprach mit dem Schriftsteller.

In anderen Städten lesen im Rahmen der "Jüdischen Kulturtage" in Solo-Veranstaltungen. Warum in Neuss mit Oleg Jurjew?

Vertlib: Das müssen Sie die Veranstalter fragen. Ich nehme aber an, dass wir zusammen gespannt wurden, weil er auch ein Autor jüdischer Herkunft ist, in Deutschland lebt und in seinen Büchern darüber reflektiert. Insofern gibt es Parallelen zwischen uns. Zudem ist er auch in Leningrad geboren.

Aber Sie kennen einander?

Vertlib: Nein, wir sehen uns zum ersten Mal. Ich muss auch zugeben, dass ich von ihm noch nichts gelesen habe. Aber über das Internet habe ich einiges über sein Werk, seine Biografie erfahren. Hier in Österreich ist die Wahrnehmung dessen, was in Deutschland literarisch geschieht, recht eingeschränkt, und es war vorher noch gar nicht richtig zu mir durchgedrungen, dass es einen Autor namens Jurjew gibt. Ich habe das erst erfahren, als man mir sagte, dass wir zusammen lesen werden.

Das könnte dann je eine recht spannende Geschichte werden ...

Vertlib: So ist es. Ich hoffe auch, das wir einen Büchertausch durchführen, und ich werde mit großem Interesse seine Bücher lesen.

Für Ihren eigenen Roman "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" haben Sie Geschichte verarbeitet, die Sie aber gar nicht erlebt haben können, weil Sie zu bei der Emigration Ihrer Familie noch klein waren. Wie haben Sie das für sich erfahrbar gemacht und dann so eindringlich und auch humorvoll schildern können?

Vertlib: Das hat mehrere Ursachen. Einerseits habe ich in der langen Odyssee unserer Emigration faktisch nur meine Familie, meine Eltern als Heimat im engeren Sinn empfunden. Sie waren für mich fast ein Refugium in einer für mich fremden Welt. Da war der Rückgriff auf die tradierte Familiengeschichte, wie ich sie von meinen Eltern gehört habe, auch ein Fundament meiner eigenen Identität. Und ich bin daneben auch mit russischer Literatur, mit der Sprache aufgewachsen. Insofern war das mich nicht fremd, obwohl ich nur die ersten fünf Jahre meines Lebens in Russland gelebt habe. Andererseits hatte ich in Israel und auch in den USA viel mit anderen Emigranten zu tun, konnte aus deren Erfahrungen schöpfen. Und ich habe auf Reisen nach Russland einige Dinge auch recherchiert.

Haben Sie dort etwas wiedergefunden von dem, was Sie aus Erzählungen kannten?

Vertlib: Bei meiner ersten Reise 1993 habe ich viele Familienmitglieder getroffen und konnte mit ihnen reden. Heute sind viele schon gestorben oder in andere Länder emigriert.

Dann ist Ihr Roman eine authentische Geschichte?

Vertlib: Nein, nicht nur. Er hat auch viel Fiktionales, von mir Erfundenes.

Sie haben für diesen Roman viel Lob bekommen, manchmal gepaart mit Verwunderung darüber, das ein junger Autor eine so dichte Geschichte über ein ganzes Menschenleben erzählen kann. War es für Sie immer klar, dass Ihr Weg einmal dahin führen muss?

Vertlib: Klar war es für mich intuitiv schon mit 14 Jahren, seit ich Tagebuch geschrieben habe. Aber zugetraut habe ich es mir lange Zeit nicht. Den Sprung ins kalte Wasser habe ich erst mit Mitte/Ende 20 gewagt, nach einem Studium der Volkswirtschaftlehre, weil ich zunächst nach den Erfahrungen der Unsicherheit in der Emigration auch auf Drängen meiner Eltern etwas Handfestes erlernen wollte. Danach habe ich dann noch drei Jahre in einer Versicherung gearbeitet und die Schriftstellerei nur nebenbei gemacht. Als ich meine Lebensgefährtin kennen lernte und von Wien nach Salzburg zog, habe ich mir dann einen gewissen Zeitraum zugestanden, um nur zu schreiben. Und als ich mit dem ersten Buch Erfolg hatte, war für mich alles entschieden.

Sie schreiben mit einem ganz besonderen Humor, mal zart, mal bitter...

Vertlib: Gerade die Ironie ist mir sehr wichtig, weil ich zwar glaube, dass man über tragische Dinge weinen kann und das auch sehr befreiend wirkt, aber man kann eben auch darüber lachen, und das hat dann oft denselben, wenn nicht sogar den stärkeren Effekt. Wobei die Ironie nicht erzwungen werden kann. Wenn ich mich hinsetzte und sagte, ich schreibe einen ironischen Text, ginge das zwangsläufig schief. Das ergibt sich ganz intuitiv. Das sind die wunderbaren Momente beim Schreiben: Wenn ich auch über mich selbst lachen kann.

Was verbinden Sie mit Ihrer Teilnahme an den "Jüdischen Kulturtagen"? Sie sind ja nicht nur zu einer Lesung hier, sondern eingebunden in ein Städte übergreifendes Projekt.

Vertlib: Die "Jüdischen Kulturtage" sprechen mich schon deswegen an, weil ich mich auch als jüdischer Autor verstehe, weniger im religiösen Sinn als viel mehr als Angehöriger einer Schicksalsgemeinschaft. Meine Texte haben fast ausschließlich mit dem Thema Judentum zu tun gehabt ...

Und das bleibt auch so?

Vertlib: Nein, das bedeutet bestimmt nicht, dass das auch in Zukunft immer der Fall sein wird. Aber es ist ein wichtiges Thema, weil es Teil meines Schicksals ist. Mit diesem Roman eingeladen zu sein, ist mir schon wichtig, weil ich über Kontingentflüchtlinge beschreibe, und NRW eines der Bundesländer ist, das die meisten Kontingentflüchtlinge aufgenommen hat.

Was erhoffen Sie sich von den "Jüdischen Kulturtagen"?

Vertlib: Ich sehe meine Aufgabe bei den Kulturtagen darin, der nichtjüdischen Welt etwas über die Denkweise dieser Flüchtlinge nahe zu bringen - über meine Texte und über Diskussionen. Für die russisch-jüdischen Zuhörer hoffe ich viele Wiedererkennungseffekte zu liefern. Die Zuwanderer leben zumeist sehr isoliert, und wenn es einen Autor gibt, der ihnen in der Sprache ihrer neuen Heimat ihnen ein Sprachrohr verleiht, ist das für sie eine große Bestätigung.

(NGZ)
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