RP-Serie: 50 Jahre Lebenshilfe - Unterer Niederrhein (Teil 1) "Ich wünsche mir ein Umdenken"

Xanten · Seit 50 Jahren setzt sich die Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung ein. Angefangen hat alles mit einer Bürgerinitiative, mittlerweile sind hier circa 2000 Menschen in verschiedenen Formen mit der Lebenshilfe verbunden.

Alpen-Veen Die Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Unterer Niederrhein feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum. Seit einem halben Jahrhundert setzt sie sich für die Inklusion von behinderten Menschen ein. Im RP-Gespräch mit Isabell Hülser spricht Werner Esser, seit 2006 Vorsitzender der Lebenshilfe Unterer Niederrhein, zum Start unserer Serie anlässlich des Jubiläums, über die Anfänge, Aufgaben und Wünschen für die Zukunft.

Das Wort Inklusion ist in aller Munde. Was bedeutet für Sie Inklusion?

Werner Esser Inklusion wird zurzeit mit einem falschen Schwerpunkt diskutiert. Man denkt dabei sofort an gleichberechtigte Teilhabe in der Schule, dabei ist das nur ein Aspekt von den 50 Artikeln in der Behindertenrechtskonvention der UN. Es geht darum, Menschen von Kindheit an nicht einfach lebenslang in eine Schublade zu stecken und sie dann entsprechend zu behandeln und nicht zu fragen, was - in diesem Fall der Behinderte - selbst will. Ich wünsche mir ein Umdenken in der Gesellschaft und zu akzeptieren, dass jemand anders ist, als ich es bin. Jeder hat die gleiche Würde, jeder hat gleiche Rechte, jeder soll soweit wie möglich ein selbstbestimmtes Leben führen können und nicht ausgeschlossen werden. Jeder hat aber auch das Recht auf Fürsorge, die er benötigt. Dazu müssen auch Hemmschwellen abgebaut werden damit es mit dem normalen Miteinander etwas wird, das ist für mich Inklusion.

Hemmschwellen sind ein gutes Stichwort. Woher kommen diese?

Esser Über 50 Prozent der Menschen haben noch nie ein Gespräch mit einem geistig Behinderten geführt. Deshalb verstehe ich, dass da eine Hemmschwelle besteht. Berührungsängste bestehen aber eher auf der Seite der Nicht-Behinderten.

Die Lebenshilfe setzt sich seit nun 50 Jahren für ein Miteinander in der Gesellschaft ein. Wie sahen die Anfänge aus?

Esser Die Anfänge der Lebenshilfe Unterer Niederrhein liegen in einer Bürgerinitiative. Sie hatte sich 1964 rund um Dr. Leo Pünnel, selbst Vater behinderter Zwillinge, gegründet. An der Gerhart-Hauptmann-Straße in Wesel wurde 1964 die erste Kita für geistig behinderte Kinder eröffnet, dort lag die "Keimzelle". Der Hintergrund war, dass behinderte Kinder an Bildung teilhaben sollten. Das war damals nicht selbstverständlich. Im Krieg waren 260 000 geistig behinderte Menschen getötet worden. Und nach dem Krieg hat es für Behinderte keine Angebote gegeben, man hat sich für sie geschämt und sie versteckt. Dann hat sich langsam eine andere Auffassung entwickelt.

Seit den Anfängen hat sich viel getan. Wie sieht denn die Arbeit der Lebenshilfe konkret aus?

Esser Heute ist die Lebenshilfe einer der größten Arbeitgeber für Menschen mit und ohne Behinderung in der Region. Wir haben Werkstätten in Rees, Alpen und Wesel, in denen über 850 Mitarbeiter beschäftigt sind. Am Anfang steht immer eine zweijährige Ausbildung. Viele wissen gar nicht, was in so einer Werkstatt passiert. Die Menschen mit Behinderung arbeiten mit geringer Fehlerquote, programmieren beispielsweise, verpacken oder fertigen hochwertige Medizininstrumente. Das Ziel ist aber auch, Behinderten Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen und betriebsintegrierte Arbeitsplätze zu schaffen.

Nicht der einzige Bereich, in dem die Lebenshilfe tätig ist.

Esser Nein, wir betreuen zudem 151 Bewohner in unseren Wohnheimen und rund 120 im Betreutem Wohnen. Im Dr. Leo-Pünnel-Haus in Wesel gibt es nach dem Umbau beide Wohnformen unter einem Dach. Dazu werden 190 Behinderte Zuhause im so genannten familienunterstützenden Dienst betreut. Zudem betreibt die Lebenshilfe Unterer Niederrhein sechs Kitas mit über 250 Kindern - mit und ohne Behinderung. Denn Inklusion sollte so früh wie möglich beginnen. Insgesamt sind so rund 2000 Menschen als normaler Arbeitnehmer, als Behinderter, oder als Kind im Kindergarten bei der Lebenshilfe aktiv. Zudem sind wir gerade dabei, in Wesel ein Autismus-Zentrum aufzubauen. Das haben sich die Gründer früher sicherlich nicht vorstellen können.

Was stehen denn für die Zukunft für Aufgaben an?

Esser Wir wollen die "Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Unterer Niederrhein" umbenennen. Genauer gesagt den Zusatz "mit geistiger Behinderung" herausnehmen. Die Behinderten werden zusehens selbstständiger und finden das auf ihrem Lohnzettel diskriminierend. Selbstständig werden ist auch für sie sehr wichtig. Deshalb wird auch das Mitbestimmungsrecht in Räten und Vorständen gesteigert. Man entscheidet immer über sie, nicht mit ihnen. Das ändert sich aber schon kräftig.

Dieses Jahr steht aber auch im Zeichen der Feierlichkeiten...

Esser Ja, am 20. September findet das große Sommerfest auf dem Gelände der Lebenshilfe-Werkstatt in Rees statt, am 26. Oktober haben wir eine interreligiöse Feierstunde im Weseler Willibrordi-Dom, und am 7. November findet eine Jubiläumsfeier in der Niederrheinhalle in Wesel statt, zu der auch die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Ulla Schmidt und der NRW Minister für Arbeit, Integration und Soziales, Guntram Schneider, erwartet werden.

(RP)
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