Solingen Bücher können brennen - Worte nicht

Solingen · "Schärfste Klinge" für Herta Müller: Hajo Jahn sprach über verfolgte Schriftsteller vom alten China bis in die Gegenwart.

Freiheit hat zwei Silben. 2013 sind weltweit mindestens 80 Journalisten wegen ihrer Arbeit umgebracht worden. Freiheit ist zunächst nur ein Wort. In diesem Jahr sind es bisher rund 60 Tote. Wie das deutsche PEN-Zentrum mitteilt, sind im vergangenen Jahr 900 Schriftsteller bedroht, eingesperrt oder ermordet worden - oder sie verschwanden einfach.

Die meisten kommen nicht ums Leben, weil sie sich in Kriegs- und Krisengebiete aufhalten. Sie sterben, weil sie über Machtmissbrauch, Korruption, organisierte Kriminalität oder Menschenrechtsverletzungen berichten. "Nirgendwo sitzen mehr Schriftsteller und Journalisten hinter Gittern als in der Türkei", sagt Hajo Jahn. Russland und China tun sich da auch nicht rühmlich hervor. Und mit all diesen Ländern machen unsere Banken und Unternehmen gerne Geschäfte. Geld stinkt eben nicht, wie schon Kaiser Vespasian wusste.

"Freiheit ist mehr als ein Wort." Unter diesem Titel hielt Hajo Jahn, Vorsitzender der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, seinen Vortrag im gut besuchten Ratssaal des Kunstmuseums. Nachdem im Vorfeld der Verleihung der "Schärfsten Klinge" an Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ihr Weggefährte Ernest Wichner und die Lektorin Angelika Klammer besonders persönliche Einblicke in das Leben und Werk der Autorin gaben, gelang Jahn ein Überblick über die Verfolgung von Schriftstellern von der Antike bis in die Gegenwart - mit zum Teil verblüffenden Tatsachen. Bis zu 12 000 Titel standen auf dem Index der Nazis und fanden den Weg auf die Scheiterhaufen der Bücherverbrennungen 1933. In der DDR gab es neben einer lückenlosen Vorzensur ähnliches. 1955 wurde "Schmutz- und Schundliteratur" verbrannt. Mit deutscher Gründlichkeit wurden 35 743 Werke aufgelistet, die zwischen 1946 und 1952 dem Regime unliebsam waren.

Bücherverbrennungen ziehen sich durch die Zeiten. Hajo Jahn: "Der Qin-Kaiser Shi Huangdi ließ nicht nur die Chinesische Mauer bauen. Er ordnete auch die erste bekannte Verbrennung von Schriften in seinem Reich an." Alles sollte getilgt werden und damit die Geschichte Chinas erst mit ihm beginnen. Das hat bekanntlich nicht geklappt. Wie auch später. "Harry Potter" wird immer noch gelesen, auch wenn Hinterwäldler in den USA das Buch wegen Verführung zum Hexenglauben verbrennen.

Ähnliches in Düsseldorf: 1965 schmissen Mitglieder des "Jugendbundes für Entschiedenes Christentum" auf den Rheinwiesen Bücher von Camus, Grass und Nabokov ins Feuer. Aber selbst die Nazis wussten, dass eine Bücherverbrennung bestenfalls ein symbolischer Akt sein kann. Denn, was einmal gedruckt ist, so Hajo Jahn, kann nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Was dem chinesischen Kaiser bei den Handschriften nicht gelungen ist, kann erst recht nicht nach Erfindung des Buchdrucks glücken. Worte sind nicht nur Sprengsätze, Bücher finden auch ihren Weg. So kursierte im KZ Bergen-Belsen ein Exemplar von Thomas Manns "Der Zauberberg" unter den Gefangenen, wie Jahn berichtet - ausgerechnet ein Buch, das 1933 verbrannt wurde. "Für mich war es der Höhepunkt des Tages", so ein jugendlicher Gefangener über die Stunde am Tag, in der er in diesem Buch lesen konnte.

So kann Lesen am Leben halten. Ebenso das Schreiben. Wie es auch Herta Müller geschehen ist. Unterstützt vom Schlagzeuger Maik Baschiti konnte Hajo Jahn der langen Geschichte verfolgter Schriftsteller lebendige Gesichter geben: Freiheit ist eben mehr als nur ein Wort.

(RP)
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