Solingen Das Bilderbuch des Entsetzens

Solingen · Das Grauen des Krieges hat ein Gesicht. Nein, es hat unzählige Gesichter: weggeschossene Kiefer und Nasen. Nur die Augen blicken einen an über der entstellten Fleischmasse, die einmal ein Antlitz war. Nun kaputt geschossen und verkrüppelt.

Ernst Friedrich stellte 1924 Fotos aus dem 1. Weltkrieg zu einem Bilderbuch des Entsetzens zusammen. "Krieg dem Kriege" heißt das Buch. Und so heißt auch die Ausstellung, die anlässlich des Beginns des 1. Weltkriegs vor 100 Jahren im Kunstmuseum Solingen gezeigt wird. "Friedrich dachte, dass niemand mehr zum Militär gehen will, wenn er diese Grauensbilder gesehen hat", sagt Prof. Jörg Becker, der zusammen mit Manfred Grothe die Ausstellung zusammengestellt und aufgebaut hat.

Die Fotos von den Versehrten schockieren bis heute. Vielleicht aber auch, weil man solche Bilder aktuell nicht zu sehen bekommt. "Man sieht sie nicht - trotz Afghanistan, Irak oder der Ukraine", erläutert Becker, während er Besucher im Museum durch die Ausstellung führt. In den Medien werde verschönert und vernebelt, um die Wohlfühlgesellschaft nicht aus dem Lot zu bringen. Immerhin: "Seit Obama US-Präsident ist, dürfen im Fernsehen die Särge der gefallenen Soldaten gezeigt werden." Und Museumsdirektor Dr. Rolf Jessewitsch ergänzt: "Hier handelt es sich um eine weltweite Verharmlosung."

Als Student Anfang der 1970er Jahre stolperte Jörg Becker über ein antiquarisches Exemplar dieses Buches. "Ich musste es erst einmal zuklappen." Zu verstörend war die Faszination des Grauens, die von den mehreren Hundert Fotos ausgeht. In seinen Gegenüberstellungen der Bilder zeigt sich Friedrich in einer bitteren Ironie: Das eine Foto zeigt den Kronprinzen nach dem Krieg beim Tennisspiel, daneben ein Proletarier, der mit seinen Armprothesen in der Fabrik arbeitet. Und der "Held" sieht gar nicht heldenhaft aus: halb verwest und mumifiziert starren einen die leeren Augenhöhlen eines schon halb im Matsch versunkenen Soldaten an.

Und immer wieder die Fotos entstellter Gesichter. "Ernst Friedrich hat diese Aufnahmen von Ferdinand Sauerbruch bekommen", so Becker. Der seltsam schillernde Chirurg, der sich sowohl von den Nazis wie später auch von den DDR-Oberen hofieren ließ, hat diese bedauernswerten Menschen behandelt. Nun sind Buch und Bilder Kernstück der Ausstellung rund um Ernst Friedrich und den 1. Weltkrieg.

Eine Vitrine zeigt Kriegsspielzeug: Zinnsoldaten, Bilderbögen, Soldatenpuppen, Kinderbücher. Wo das enden kann, sieht man dahinter: ein einbeiniger, einäugiger, zerlumpter Soldat, gezeichnet 1919 von Heinrich Zille: "Nun Bruder, nimm Dir'n Bettelsack, Soldat bist du gewesen", lautet die böse Unterschrift. "Auch Zille als Gesellschaftskritiker gehört in diese Ausstellung", sagt Becker. Aber neben Friedrich und Zille sind die Ausstellungsmacher besonders darauf stolz, dass alle Exponate aus Solingen kommen - einschließlich der Krücken und Prothesen.

Dazu gehören auch die in Solingen hergestellten Offizierssäbel. Becker: "Die wurden zwar nicht mehr zum Kämpfen benutzt, aber es soll ein Verweis darauf sein, dass Solingen auch im 1. Weltkrieg eine wichtige Rüstungsindustrie hatte."

Ernst Friedrich, 1894 in Breslau geboren, ging davon aus, mit Erziehung die Gesellschaft ändern zu können. "Mit Stolz nannte er sich einen Anarchisten", sagt Becker über den erklärten Pazifisten. "Der damalige Anarchismus kannte zwei Stoßrichtungen." Zum einen war da die Jugendbewegung, die mit Klampfe und Liedern durchs Land zog, die sich ganz antibürgerlich gegen die leer gewordenen Rituale der Gesellschaft wehrte.

Zum anderen ging es gegen den organisierten Kommunismus mit seiner Parteihierarchie. "Diese doppelte Speerspitze machte den Anarchismus auch anfällig." Gerade einmal rund 400 Mitglieder gab es um 1920 in Deutschland. Und trotzdem war er wichtig.

Ernst Friedrich ätzte in seiner Zeitschrift "Die schwarze Fahne" gegen die Verlogenheit von Gesellschaft und Obrigkeit, er gründete in Berlin ein Anti-Kriegsmuseum und gehörte zu den von den Nazis am meisten gehassten Gegnern. Nach 1933 führte ihn seine Flucht über die Schweiz und Belgien nach Frankreich. Nach dem 2. Weltkrieg war Ernst Friedrich nur noch eine Randfigur, die sich vor allem der Jugendarbeit widmete. Er starb im Jahr 1967.

Zum Schluss verriet Jörg Becker ein pikantes Detail, das ein weiteres Schlaglicht auf das Thema und den Umgang damit wirft: Am 23. Mai 1950 verabschiedete der Bundestag mit überwältigender Mehrheit, dass das Herstellen von Kriegsspielzeug in Deutschland verboten sei. Der Beschluss wurde bis heute nicht umgesetzt.

(crm)
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