Interview "Der Zustand war zuletzt nicht mehr haltbar"

Solingen · Bald wird die Stadtspitze wieder komplett sein. Zwei, die in den Jahren der leeren Chefsessel im Rathaus besonders gefordert waren, sind der Stadtdirektor und der Kämmerer. Ein Gespräch über Ausnahmesituationen als Dauerzustand, das Ende der Leidenszeit - und die Zukunft.

 Stadtdirektor Hartmut Hoferichter (l.) und Kämmerer Ralf Weeke sind die dienstältesten Angehörigen an der Solinger Stadtspitze. Beide arbeiten seit 2001 im Rathaus.

Stadtdirektor Hartmut Hoferichter (l.) und Kämmerer Ralf Weeke sind die dienstältesten Angehörigen an der Solinger Stadtspitze. Beide arbeiten seit 2001 im Rathaus.

Foto: Stephan K�hlen

Herr Hoferichter, Herr Weeke, in wenigen Tagen bekommen Sie mit den neuen Dezernenten Jan Welzel und Dagmar Becker endlich Verstärkung an der Verwaltungsspitze. Wissen Sie eigentlich schon, was Sie mit der neu gewonnenen Freizeit anfangen werden?

Weeke (lacht) Nun ja, meine Familie freut sich jedenfalls schon - und ich im Übrigen auch. Aber Spaß beiseite: Wir - und ich denke, dass ich da auch für den Kollegen Hoferichter sprechen kann - sind sehr froh, dass wir im Verwaltungsvorstand nach vielen Jahren bald wieder komplett sind. Um es deutlich zu sagen: Der Zustand war zuletzt - vor allem nach dem Wechsel von Robert Krumbein nach Dormagen - nicht mehr haltbar.

Hoferichter Das stimmt. Obwohl die vertretungsweise Verantwortung für andere Dezernate ja beinahe schon so etwas wie ein Normalzustand war. Ich habe vor ein paar Wochen, als klar war, dass die neuen Dezernenten kommen, mal darüber nachgedacht. Und da ist mir aufgefallen, dass ich zum Beispiel seit 2001, mit einer Unterbrechung von einem Jahr, insgesamt 13 Jahre lang für den Bereich Schule zuständig war - obwohl der gar nicht in meinen eigentlichen Bereich fiel. Das ist wirklich eine lange Zeit.

Weeke (schmunzelt) ... und es gibt viele Schulleiter, die jetzt durchaus traurig sind, dass Hartmut Hoferichter bald nicht mehr für sie zuständig ist.

Hoferichter (lacht) Ach, das wird sich legen. Im Ernst: Wir bekommen mit Dagmar Becker eine hervorragende neue Schuldezernentin. Nein, man muss es ganz klar betonen: Der Amtsantritt der neuen Beigeordneten bedeutet für uns eine große Erleichterung.

An die am Ende wohl niemand mehr so richtig geglaubt hat.

Weeke Sagen wir es mal so: Ich hatte die Hoffnung niemals aufgegeben. Und als es dann im vergangenen Jahr sogar Remscheid geschafft hat, neue Dezernenten zu wählen, habe ich gedacht: Was die können, muss in Solingen doch auch funktionieren (lacht).

Hoferichter Immerhin ist in der Hauptsatzung der Stadt Solingen festgelegt, dass es vier Dezernentenstellen geben soll. Der Verwaltungsvorstand besteht also inklusive Oberbürgermeister aus fünf Personen. Und diese Stärke haben wir demnächst endlich wieder.

Ergo schwingt bei Ihnen gar kein Wehmut mit, wenn es jetzt heißt, Abschied zu nehmen?

Weeke Das wäre sicher das falsche Wort, zumal wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ja weiterhin sehen werden. Gleichzeitig steht aber auch fest, dass man durch die erweiterten Zuständigkeitsbereiche eine bisweilen andere Sichtweise auf bestimmte Probleme bekommen hat.

Was meinen Sie damit konkret?

Weeke Nehmen sie zum Beispiel die Flüchtlingsfrage, für die ich in den vergangenen Monaten zuständig war. Als Kämmerer habe ich natürlich in erster Linie die damit zusammenhängenden finanziellen Fragen im Blick zu halten. Wie beteiligen sich Bund und Land? Welches ist die wirtschaftlichste Lösung der Unterbringung, Versorgung, etc.? Doch in der konkreten Situation der zurückliegenden Zeit war ich eben auch für andere Dinge verantwortlich. Ich bin mit den Menschen in Kontakt gekommen, habe von ihren Schicksalen und Nöten erfahren. Das verändert das eigene Koordinatensystem und erweitert den eigenen Blickwinkel deutlich, da neben monetären vor allem auch soziale Aspekte in den Vordergrund rücken. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen und vor allem bei den vielen ehrenamtlich tätigen Menschen bedanken, die hier in Solingen Großartiges leisten.

Kann man die Mehrarbeit, die sie in all den Jahren der Vertretungen zu schultern hatten, eigentlich in Zahlen bemessen?

Hoferichter Ich glaube nicht, dass es Sinn macht, die Stunden zu zählen. Natürlich ging es an Wochentagen von früh morgens bis spät abends. Und an den Wochenenden fiel auch immer Arbeit an. Sonst wäre es nicht zu schaffen gewesen.

Weeke (nachdenklich) Um Familie und Beruf wenigstens einigermaßen unter einen Hut zu bekommen, habe ich beispielsweise mein halbes Büro nach Hause verlegt.

Hoferichter Und man musste - ob man wollte oder nicht - Prioritäten setzen. Man hat von Tag zu Tag neu entscheiden müssen, was wichtig ist. Ich denke, dass ist uns auch ganz gut gelungen. Aber dennoch: Was dabei naturgemäß zu kurz kommen musste, waren mittelfristige Überlegungen. Das Tagesgeschäft bestand vielfach auch aus Improvisation.

Wie wirkte sich das denn aus?

Hoferichter Das hatte zum Beispiel zur Folge, dass man Mandate für die Stadt und Kontakte in verschiedenen Ausschüssen einfach nicht mehr so pflegen konnte, wie man es selbst gerne gewollt hätte. Das ist ein durchaus wichtiger Punkt. Sie dürfen nämlich eines nicht übersehen: Entscheidungen oder Vorgaben, etwa der Landesregierung, sind das eine. Andererseits sind aber vor allem auch persönliche Gespräche immer wieder Gold wert, wenn es darum geht, das beste Ergebnis für unsere Stadt zu erreichen.

Auch aus diesem Grund haben Sie beide bereits früh darauf hingewiesen, dass die Unterbesetzung an der Rathausspitze auf Dauer kaum tragbar ist.

Hoferichter Richtig. Wobei man zunächst auch betonen muss, warum es eigentlich zu dieser Situation kam. Vor der Oberbürgermeisterwahl 2009 waren wir im Verwaltungsvorstand ja noch komplett. Doch dann wurde der damalige Dezernent Norbert Feith zum neuen Stadtoberhaupt gewählt - und die Bezirksregierung hat aufgrund unserer finanziellen Lage zunächst einmal eine Wiederbesetzungssperre von einem Jahr erlassen.

Ja, dieses eine Jahr war aber irgendwann auch wieder vorbei...

Weeke Darum haben wir das Problem 2010 erstmals thematisiert. Soweit ich mich erinnere, war das im Rahmen einer Finanzausschussklausur.

Nur war sich die Solinger Politik lange Zeit nicht einig, ob die Zahl von vier Dezernenten wieder erreicht werden sollte. Fühlten Sie sich manchmal von den Politikern im Stich gelassen?

Hoferichter Ach sehen Sie, die Haltung in der Politik war ja durchaus unterschiedlich. Natürlich gab es diejenigen, die der Meinung waren, die Arbeit an der Stadtspitze sei auch ohne komplette Dezernentenriege zu schaffen. Gleichzeitig äußerten jedoch auch viele in der Politik Verständnis für unsere Lage.

Zuletzt hat es mit der personellen Verstärkung an der Solinger Rathausspitze aber erst geklappt, als mit Robert Krumbein (SPD) im vergangenen Jahr noch ein Dezernent wegfiel.

Weeke Wie ich schon am Anfang gesagt habe: Die Lage war in den zurückliegenden Monaten angesichts der vor uns liegenden Aufgaben unhaltbar. Und das wurde dann umso deutlicher, als Robert Krumbein nach Dormagen ging und sich noch dazu die Flüchtlingsthematik weiter zuspitzte.

Zumal die Aufgaben, von denen Sie sprechen - siehe Flüchtlingskrise -, auch noch lange nicht erledigt sind.

Weeke Das ist sicherlich wahr. Das Flüchtlingsthema wird die Verwaltung sowie die Dezernenten und den Oberbürgermeister weiterhin in Gänze fordern. Auch deswegen hat Tim Kurzbach das Thema nach seiner Wahl im Sinne einer Gesamtsteuerung in seinem Ressort angesiedelt. Es sind viele Bereiche der Verwaltung und damit alle Ressorts betroffen. Herrn Welzel wird das Thema als Sozialdezernent intensiv beschäftigen. Frau Becker in ihrer Zuständigkeit für Schule, Jugend, Integration und natürlich auch Sport und Kultur. Herrn Hoferichter hinsichtlich der mit dem Zuzug der Menschen verbundenen Herausforderungen für Wohnungsbau und Infrastruktur. Und mich selbst natürlich in allen finanz- und gebäudewirtschaftlichen Fragestellungen.

Das klingt so, als stünde die Flüchtlingsfrage in den kommenden Jahren über allem. Dies wiederum könnte aber schnell zu Neid und Missgunst in anderen Teilen der Bevölkerung führen.

Weeke Wir müssen darauf achten, dass unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Von zentraler Bedeutung wird sein, die Menschen angesichts der vor uns liegenden Veränderungen nicht zu verunsichern, sondern - bildlich gesprochen - mitzunehmen.

Die Herausforderung von Politik und Verwaltung dürfte darin liegen, die Gesellschaft in Solingen wie anderswo zusammenzuhalten. Zu einer Nagelrobe könnte es da in Sachen Wohnungen kommen.

Hoferichter Natürlich ist es so, dass Wohnraum nicht nur für Flüchtlinge, sondern für alle geschaffen wird. Der Bestand an gefördertem Wohnraum war schon in den zurückliegenden Jahren in Solingen rückläufig, es bestand ohnehin ein Handlungsbedarf und die Notwendigkeit die Förderbedingungen des Landes zu verändern. Jetzt wird für alle Bürgerinnen und Bürger, die auf preiswerten Wohnraum angewiesen sind, im Rahmen eines Wohnungsbauprogramms das Angebot verbessert und ausgeweitet.

Weeke Zumal dies nicht alles ist, was wir in den nächsten Jahren in Solingen auf den Weg zu bringen haben.

Woran denken Sie konkret?

Weeke Ich nenne nur einmal exemplarisch drei Dinge aus meinem Zuständigkeitsbereich. Wie schaffen wir bis 2018 mit Landesmitteln und bis 2021 aus eigener Kraft einen ausgeglichenen Haushalt? Wie geht es mit den Standorten der Verwaltung weiter? Und was wird aus den städtischen Beteiligungen?

Alles wichtige Themen...

Hoferichter ...wie auch Stadtentwicklungsprojekte oder die Energiewende und andere Aufgaben, die es überdies in allen Ressorts gibt. Sie sehen also, es gibt viel zu tun in der Zukunft - und umso entscheidender ist es da, dass wir nun endlich wieder eine komplette Stadtspitze haben.

MARTIN OBERPRILLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH

(or)
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