Interview mit Dr. Ilka Werner "Luther ist bis heute ein Vordenker"

Solingen · Die Superintendentin der Evangelischen Kirche über das kommende Lutherjahr in Solingen, Kirchenaustritte, Integration - und die Aktualität des Reformators in der Gegenwart, seine Stärken und seine dunklen Punkte.

Frau Dr. Werner, bis zum Beginn des neuen Jahres sind es nur noch wenige Tage. 2017 wird für die Evangelische Kirche dabei ein besonders: 500 Jahre Martin Luther. Welche Bedeutung hat der Reformator aus Ihrer Sicht für die Menschen heute?

Werner Wir feiern nicht 500 Jahre Luther, sondern 500 Jahre Reformation. Aber Sie haben Recht: Anlass ist der legendäre Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche am 31. Oktober 1517. Luther hat die Reformation ganz knapp in vier Begriffen zusammengefasst: allein Christus, allein die Gnade, allein der Glaube und allein die Schrift. Was das für Menschen heute bedeuten kann? Wer versucht, sich 'nur an Christus' zu orientieren, erkennt, in wie vielen Bereichen wir längst anderen Göttern nachlaufen, wie selbstverständlich wir beispielsweise sagen: Geld regiert die Welt. Wir merken, wie unfrei uns etwa die Ökonomisierung aller Lebensbereiche macht. "Allein Christus" kann helfen, Klarheit über die eigenen Werte zu gewinnen. Was das angeht, ist Luther immer noch ein beeindruckender Vordenker.

Dabei ist Martin Luther ja nicht der einzige Reformator. Und zudem gibt es auch immer wieder Kritik an seinem Wirken.

Werner Es gibt tatsächlich noch viele weitere Reformatoren. Die Reformation war ein Phänomen, an dem zeitgleich mit Luther und auch davor und danach viele Theologen mitgedacht haben, zum Beispiel Melanchthon, Karlstadt, Zwingli oder Calvin, aber auch einige bemerkenswerte Frauen, die als Pfarrfrauen, Regentinnen oder Flugschriftenautorinnen die neue Art, zu glauben, verbreiteten. Luther ist kein evangelischer Heiliger, denn es gibt neben seinen unbestritten großen Verdiensten für die Reformation eben auch seine katastrophalen Schriften gegen die Juden oder gegen die Bauernaufstände. Auch seine Fehler haben eine Wirkungsgeschichte bis heute, darum dürfen wir ihn nicht auf einen Sockel stellen, sondern müssen differenziert und kritisch mit seinem Erbe umgehen.

Was ist aus Anlass des Luther-Jahres alles in Solingen geplant?

Werner Wir sind ja schon mittendrin: Am Reformationstag 2016 hat das Jubiläumsjahr bereits begonnen. Bis zum 31. Oktober 2017 sind mehr als 70 Veranstaltungen geplant: Gottesdienste, Vorträge, Konzerte, Ausstellungen. Ein Höhepunkt ist vielleicht der ökumenische Bibelmarathon im März, bei dem Solingerinnen und Solinger in einer Woche die ganze Bibel vorlesen. Oder das Pop-Oratorium "Luther" am 30. September im Theater mit den Bergischen Symphonikern und einem großen Musicalensemble. Oder unsere Wanderausstellung "Typisch evangelisch", die an ganz vielen Orten in Solingen zu sehen sein wird: Kirchen und Gemeindehäuser, aber auch Stadtbibliothek, Klinikum und Stadt-Sparkasse.

Wie steht es überhaupt um die Evangelische Kirche in Solingen? Wie hat sich die Zahl der Kirchenaustritte entwickelt - und sind Sie der Meinung, dass Sie mit Ihren Aktivitäten im Reformationsjahr wieder mehr Menschen für Ihre Kirche gewinnen können?

Werner Die Evangelische Kirche in Solingen verliert jedes Jahr leider etwa zwei Prozent ihrer Mitglieder. Das waren 2015 knapp 1100 Köpfe. Ein Fünftel davon kommt zustande, weil etwa 300 Menschen ausgetreten, aber nur 100 wieder in die Evangelische Kirche eingetreten sind. Der restliche Rückgang entsteht, weil viel mehr evangelische Menschen sterben als geboren werden, viel mehr evangelische Beerdigungen als Taufen stattfinden. Ich glaube nicht, dass wir diesen Trend durch ein Reformationsjubiläum umkehren können. Aber wir werden uns attraktiv und zeitgemäß präsentieren und freuen uns natürlich über jeden, der wieder zu uns kommt.

Und welche Chancen für die Ökumene sehen Sie in Solingen?

Werner Die ökumenische Zusammenarbeit findet in Solingen traditionell auf einem sehr guten Niveau statt. Und ich bin überzeugt, dass das auch in Zukunft so bleibt. Wir feiern auch unser Jubiläum ökumenisch, etwa beim Bibelmarathon, der von allen christlichen Kirchen in Solingen veranstaltet wird, oder mit katholischer Beteiligung, wenn die Vorsitzende des Dekanantsrats, Frau Dr. Spengler-Reffgen, im März in der Stadtkirche am Fronhof eine Kanzelrede im Sonntagsgottesdienst halten wird.

In welchen Bereichen der Solinger Stadtgesellschaft will sich die Evangelische Kirche darüber hinaus noch stärker einmischen?

Werner Was gegenwärtig, glaube ich, besonders dran ist, ist die Diskussion, wie die Werte, die in unserer Gesellschaft für alle verbindlich sind, konkret werden. Mit der Botschaft von Jesus Christus sind Nationalismus, Fremdenhass und Ausgrenzung nicht zu vereinbaren. Mit dem Grundgesetz meines Erachtens auch nicht. Auf dieser Basis müssen wir alle in der Stadt mithelfen, soziale Gerechtigkeit für alle besser zu verwirklichen. Da hilft es nicht, verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen oder die Sorgen der Leute zu instrumentalisieren. Wir brauchen Gespräche, Auseinandersetzungen, Begegnungen und jede Menge zweite und dritte Chancen, wenn etwas nicht gleich funktioniert. Wir alle brauchen Geduld und einen langen Atem.

Im Sommer zeigte sich, dass nach dem Putsch in der Türkei auch durch die türkische Gemeinde ein Riss ging. Wie sind ihre Kontakte zum Beispiel zu den Ditib-Gemeinden und zu den Anhängern des Predigers Gülen?

Werner Durch Menschen aus dem Kirchenkreis und den Gemeinden sind wir mit Vertretern der beiden türkischen Seiten im Gespräch. Wir hören aufmerksam zu, was ihnen jeweils Sorge bereitet, und fragen natürlich auch schon mal kritisch nach.

Auch in Solingen gibt es immer wieder Diskussionen um die Integration. Wie weit sind wir in der Stadt aus Sicht der Evangelischen Kirche bei der Integration der Flüchtlinge?

Werner In Solingen wird sehr viel für die Integration geflüchteter Menschen getan - auch durch die Stadt. Das betrifft sowohl die Angebote, die die Stadt selbst entwickelt, als auch die Unterstützung für die Arbeit zum Beispiel der Kirchengemeinden oder freier Initiativen. Dabei erkennen wir immer deutlicher, wie langwierig gelingende Integration ist: Bis zum Beispiel neu erworbene deutsche Sprachkenntnisse für eine Berufsausbildung ausreichen, braucht es viel Zeit - und das Geld, um die dazu nötigen Bildungsangebote langfristig zu finanzieren. Ich hoffe, der Staat wird zu dieser wichtigen Investition in die Zukunft unseres Landes auch in den kommenden Jahren bereit sein.

Was muss Ihrer Meinung nach in Sachen Integration noch besser werden? Wie schätzen Sie die Arbeit in diesem Bereich in den muslimischen Gemeinden ein? Tun diese genug - und tun sie das Richtige?

Werner Viele der zu uns geflüchteten Menschen möchten nicht nur unter sich bleiben. Sie möchten Begegnungsmöglichkeiten mit denen, die schon lange hier leben: Gelegenheiten, in denen sie nicht als Flüchtlinge, sondern als neue Nachbarn oder neue Mitschüler wahrgenommen werden. Hier wünsche ich mir noch mehr Phantasie, um solche Begegnungen zu ermöglichen und zu verstärken. Ich bitte um Verständnis dafür, dass wir das Engagement uns verbundener anderer Konfessionen und Glaubensgemeinschaften grundsätzlich nicht öffentlich bewerten.

Dabei ist Integration ja keine Einbahnstraße. Welche Forderungen können Christen an die Neuankommenden richten?

Werner In der Bibel gibt es einen Satz für Menschen, die in einer neuen Heimat leben: "Suchet der Stadt Bestes!" Für mich bedeutet das, wir können erwarten, dass Flüchtlinge sich wirklich auf ihre neue Heimat einlassen: zum einen, indem sie ihre Talente und Gaben hier bei uns einbringen. Dazu ist es natürlich auch zwingend nötig, dass sie die deutsche Sprache beherrschen. Zum zweiten, indem sie die Situation in ihrer neuen Heimat realistisch wahrnehmen und daran ihre Ansprüche an diese Gesellschaft orientieren. Und zum dritten, indem sie sich in gewissem Rahmen an die Gesellschaft hier anpassen. Das bedeutet sicher auch den Abschied von manchen kulturellen Traditionen ihrer alten Heimat. Andererseits sollten wir nichts von unseren neuen Nachbarn verlangen, was nicht für alle diejenigen gilt, die bereits lange hier leben.

MARTIN OBERPRILLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(or)
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