Solingen Nettsein ist für Martenstein auch keine Lösung

Solingen · Der bekannte Autor ging in seiner Lesung im Solinger Theater den Bizarrerien unserer Tage auf den Grund.

Die Welt ist ein Lunar Park: Man muss gut beobachten, dann die Ernte einfahren. Ist das schon alles? Nicht ganz. Was er sieht, legt er unter das Mikroskop des satirischen Analytikers. Das weiß nicht jeder zu schätzen - doch längst sind ihm seine Hasser so treu wie seine Fans. Für letztere gab Harald Martenstein, ZEIT-Magazin-Kolumnist und Romanautor, im Theater- und Konzerthaus eine Probe seiner Meisterschaft. Es wurde eine Begegnung mit einem Virtuosen der Wortkunst.

Ein wenig wie der späte Peter Handke wirkt er, mit Brille und Walle-Haar, vor sich Glas, Mikro sowie "Die neuen Leiden des alten M." und "Nettsein ist auch keine Lösung", das Buch mit der Hitlerbärtchenkatze. Er plaudert und liest, stets mit dem pointierten, nie albernen Timbre des literarischen Kabarettisten, von dem er viel hat, was seine Reflexionen so urig macht wie die Texte selbst.

Martenstein sinniert über seine Anfänge und darüber, dass er nichts erfindet und wie was wie wichtig Tabuverletzung für den Humor ist. Von diesen Gedanken leitet er über zu den Texten. In denen geht's um alles und nichts, um Trends, Bizarrerien, Irrtümer, und (Vor)-Urteile. Der semiotisch-semantische Kurvenreichtum ist stets gewagt, nie korrekt und trifft oft ins Schwarze. Es ist ein Jammer mit der Trägheit der Söhne: "Das Projekt, eine Badehose zu kaufen" verfolgt der Filius seines Kollegen "seit acht Wochen", - "aber irgendwann wird er's schaffen." An Christian Krachts Beispiel zeigt er, wie leicht man durch Briefe nach rechts gestellt wird. Aber was ist dann mit Ghandi? Der hat Briefe an Hitler geschrieben. "Alice Schwarzer vertritt das Führerprinzip" - "und Roberto Blanco ist der Christian Kracht der Musik."

Weitere Dauerthemen: Sexismus, Frauenrechte, der Gender-Mainstream. Letzterem widmet er eine virtuose Satire, in der Schulz vom Boss im Rahmen des "Doing Gender" ruckzuck zur Mitarbeiterin erklärt wird. Aber wie spricht man Professxx aus, ohne zum "Kieferorthopädx" zu müssen? Dann gibt's Ideen, die sich selbst ad absurdum führen - und ihre Verfechter gleich mit. So auch das Bezirksparlament Kreuzberg, dessen Forderung, keine Frauen zu zeigen, die "körperbetont gekleidet und lächelnd inszeniert sind", diese erst recht zu schwachen Menschen stigmatisiere - und damit "nach eigenen Kriterien verboten werden" müsste.

Auch über Worte sinniert er. Wenn man das Wort Flüchtling nicht verwenden soll. "Was wird dann aus den Zwillingen? Da muss ein neues Wort her. Gedoppelter vielleicht?" Warum liebt man Kinder? Damit, "wenn man alt ist, Weihnachten jemand anruft. Dies könnte man auch billiger haben." In "Hitler und seine Katzen" gewährt er einen Einblick in die Küche seines Humors. Es gehe darum, "Dinge zusammen zu bringen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben." Und schließlich stolpert Martenstein auch über eigene Marotten. Das macht seine To-Do-Liste klar. "Eines Tages werden meine Hinterbliebenen fünf blaue Karteikarten finden, dann wird jemand in der Küche die Birne austauschen und den Plattenspieler zur Reparatur bringen."

Nach Lesungsende signierte Martenstein Bücher und plauderte mit dem Publikum. Texte arbeite er "bis zu zehn Mal um". Der "Habitus des Durchblickers" ist ihm "suspekt". Und "Widerspruch erzeugt Adrenalin, das ist meine Droge." Nörgler inspirieren ihn - sogar zu Texten. Seinem treuesten widmete er einen, in den er vier Fehler eingebaut hat. Das ist wahre Dankbarkeit.

(sto)
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