Solingen Offener Dialog hilft der kranken Psyche

Solingen · Wenn Menschen die Realität krankhaft aus den Augen verlieren, an Wahnvorstellungen leiden oder Selbstmordgedanken Überhand gewinnen, denken Angehörige und selbst Fachleute oft in erster Linie an lange Krankenhausbehandlungen und Therapien mit starken Medikamenten. "Wenn sich abends um 23 Uhr jemand umbringen will, kann der ärztliche Notdienst nur zwischen Nichtstun und einer Einweisung entscheiden", verdeutlicht Nils Greve, Vorsitzender des Psychosozialen Trägervereins (PTV), eine Schwachstelle im Gesundheitswesen. "Wir kommen in so einem Fall zu den Menschen nach Hause."

Ziel der integrierten Versorgung des PTV ist es, mit Betroffenen und deren Familien in ein sogenanntes Netzwerkgespräch zu treten und schon dadurch bereits zur Bewältigung psychotischer Krisen beizutragen. Dass das funktioniert, zeigen unter anderem Studien aus Finnland. Dort forscht Professor Jaakko Seikkula seit Jahrzehnten zum Thema. Gestern sprach der renommierte Psychotherapeut vor Fachpublikum und interessierten Gästen im Restaurant Steinhaus über seine Erkenntnisse. "Psychose - Grenzerfahrungen und Dialoge", hieß die offene Tagung, auf der viele Experten im alten Bahnhof referierten. Die deutschsprachige Veranstaltung war ein Teil der 20. Internationalen Fachkonferenz zur Behandlung von Psychosen. Erstmals war Solingen auf Initiative des PTV Schauplatz des fachlichen Gedankenaustauschs, an dem Ärzte und Wissenschaftler aus 13 Nationen, darunter den USA, Japan und Kuba, teilnahmen. Die Möglichkeiten moderner Therapien zu erörtern und sich gegenseitig durch neue Einsichten zu "erstaunen", wie es Jaakko Seikkula einmal formulierte, war das Ziel der Tagung.

"Als sie kamen, wusste ich, dass meine Eltern mir zuhören", zitiert Martin Vedder, Leiter des ambulanten Dienstes beim PTV, einen jungen Mann, dessen Verfassung sich durch die Notfallhilfe gebessert hatte. Die an die Bedürfnisse angepasste Behandlung von Menschen mit Psychosen hat sich in verschiedenen Regionen Skandinaviens bereits durchgesetzt. Dort gibt es die Möglichkeit, binnen 24 Stunden nach einem Hilferuf Teams aus verschiedenen Fachkräften zu bilden, um den Erkrankten, nach Möglichkeit in ihrem Wohnumfeld, gemeinsam mit deren Angehörigen beizustehen und Lösungswege aufzuzeigen - mit erstaunlichen Ergebnissen: Sogar der Bedarf an Psychopharmaka sank, und chronische Krankheitsverläufe traten in geringerem Maße auf.

Der Psychosoziale Trägerverein Solingen mit Sitz an der Eichenstraße bietet neben der ambulanten Hilfe auch eine Tagesklinik und Wohngruppen. Mehrere tausend Menschen erleiden nach Schätzungen von Nils Greve allein in Solingen im Laufe ihres Lebens eine psychotische Krise.

www.ptv-solingen.de

(ied)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort