Zeitzeugin Tätowierte Häftlingsnummer erinnert sie bis heute

Solingen · Nachdem Philomena Franz das Wort erhoben hat, ist es still. Die 93-jährige Auschwitz-Überlebende spricht leise, sie ist noch geschwächt von einem Krankenhausaufenthalt. Doch ihre Erlebnisse als Angehörige der Sinti-Minderheit in den Lagern der Nationalsozialisten will sie den Schülern im Mildred-Scheel-Berufskolleg unbedingt erzählen.

Nachdem Philomena Franz das Wort erhoben hat, ist es still. Die 93-jährige Auschwitz-Überlebende spricht leise, sie ist noch geschwächt von einem Krankenhausaufenthalt. Doch ihre Erlebnisse als Angehörige der Sinti-Minderheit in den Lagern der Nationalsozialisten will sie den Schülern im Mildred-Scheel-Berufskolleg unbedingt erzählen.

"Das was ich zu sagen habe, ist nicht so einfach. Es war wie die Hölle", warnt sie die Zuhörer. Was die Schüler in der nächsten Stunde zu hören bekommen, ist eine Geschichte von Menschenverachtung und Grausamkeiten, aber auch von Lebensmut und Glücksmomenten.

Die Familie von Philomena Franz, der Vater Cellist, die Mutter Sängerin, lebte mit ihren acht Kindern vor dem Zweiten Weltkrieg in Stuttgart. Als Angehörige der Sinti muss Philomena Franz dort die Untersuchungen eines Rasseforschers über sich ergehen lassen, der Nase und Ohren vermisst. Vor der Deportation nach Auschwitz belügen die Nationalsozialisten die Sinti über ihr Ziel: Sie kämen in ein Arbeitslager, dort gebe es zu essen, zu trinken und Lohn.

Als Philomena Franz nach mehrwöchiger Fahrt im Viehwaggon im Frühjahr 1943 in Auschwitz ankommt, warten an der Rampe Hunde und Knüppel: "Raus, raus, raus !", schreien die Wachleute. Sie erinnert sich: "Ich dachte, oh mein Gott, wo sind wir hier gelandet ?" Sofort wurde sie registriert, ihre tätowierte Häftlingsnummer trägt sie bis heute auf dem linken Unterarm. Im Lager müssen die Gefangenen marschieren. Diejenigen, die zu schwach waren, werden erschossen.

In ehemaligen Pferdeställen leben die Sinti im sogenannten "Zigeunerlager" unter schlimmsten Bedingungen. "Wir haben doch nichts getan", sagt sie, immer noch fassungslos. "Nur weil wir Sinti waren und keine Arier." Oft kam ihr der Gedanke: "Lieber Gott, lass mich sterben, ich kann nicht mehr."

Im Sommer 1943 meldet sich Philomena Franz für den Arbeitseinsatz in einer Rüstungsfabrik beim KZ Ravensbrück. Dort trifft sie ihre Schwester wieder und kann ihr Glück nicht fassen. "Lebt unser Vater noch ?", fragt sie. "Der Vater ist in Auschwitz vergast worden", berichtet die Schwester. Auch 70 Jahre später stockt ihr bei der Erinnerung daran die Stimme, sie muss ihren Vortrag kurz unterbrechen.

In Ravensbrück entflieht sie den Nationalsozialisten zum ersten Mal, als sie über den Lagerzaun springt und im Wald lebt. Sie wird wieder gefangen genommen und zur Strafe an den Armen am Galgen aufgehängt. Die SS bringt sie nach Oranienburg, wo sie die Gestapo verhört und misshandelt. Danach kommt sie zum zweiten Mal nach Auschwitz, wo sie die Asche aus dem Krematorium verladen muss. Nach einigen Wochen schickt man sie zur Zwangsarbeit nach Wittenberg an der Elbe, wo ihr kurz vor Kriegsende erneut die Flucht gelingt. Von der Familie ist ihr ein Foto geblieben - alle Familienmitglieder wurden von den Nationalsozialisten ermordet, bis auf einen Bruder.

Nach dem Krieg heiratete Philomena Franz und wurde Mutter von fünf Kindern. Sie schrieb Märchen und Gedichte, hielt Vorlesungen an Universitäten, in Schulen und Volkshochschulen. 1995 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande. BENJAMIN DRESEN

(bjd)
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