Solingen Umarmen und loslassen

Solingen · Shabnam und Wolfgang Arzt wird zur Abtreibung geraten, doch sie entscheiden sich dafür, ein Kind mit einer schweren Entwicklungsstörung zu bekommen. Sie leben 13 Jahre mit ihrer Tochter Jaël - und sehen die gemeinsame Zeit als Geschenk.

 Shabnam und Wolfgang Arzt mit ihrer Tochter Jaël.

Shabnam und Wolfgang Arzt mit ihrer Tochter Jaël.

Foto: Arzt

"Wollen Sie das Ihrem Kind und sich selbst wirklich antun?" Diese Frage stellt ein Pränatalmediziner im Juni 2001 einem jungen Paar, das im achten Schwangerschaftsmonat zu einer Ultraschalluntersuchung in seine Praxis kommt. Er sagt schwerste Behinderungen bei dem Kind voraus und rät zur Abtreibung. Die Eltern sind schockiert und verunsichert. Dennoch wissen sie: "Wir wollen unser Kind - genau so wie es ist."

Jaël wird 13 Jahre alt. Ihre Eltern Shabnam und Wolfgang Arzt erzählen von einer glücklichen Zeit: "Die Jahre mit unserer Tochter sind für uns wie ein kostbares Geheimnis, das wir gar nicht endgültig in Worte fassen können", schreiben sie in ihrem Buch "Umarmen und loslassen". Das in Solingen lebende Ehepaar nimmt den Leser mit auf eine emotionale Reise, die ihn "viele kleine Tode" miterleben lässt, aber auch bereichernde und glückliche Momente für Jaëls Eltern, Großeltern und Freunde.

Jaël kommt im September 2001 zur Welt. Sie hat das Edwards-Syndrom, auch Trisomie 18 genannt. Die meisten Kinder mit dieser Entwicklungsstörung könnten nur wenige Monate leben, warnen die Ärzte. Tödlich sei sie immer. Nach drei Wochen in der Klinik wird die kleine Familie entlassen. Ausgestattet mit einem Überwachungsmonitor, der Alarm schlägt, wenn Jaëls Atmung aussetzt, und mit den Erfahrungen eines Crashkurses in Wiederbelebungsmaßnahmen.

"Bereits auf den ersten Metern straucheln wir", schildert Wolfgang Arzt. "Nicht nur, dass wir alle Hände voll haben mit dem Kind im Maxi-Cosi, Gepäck und Gerätschaften. Jetzt meldet sich auch der Überwachungsmonitor laut. Mitten auf dem Weg. Erster Atemaussetzer in Freiheit. Panikanfall zu zweit." Doch Jaël übersteht nicht nur den Weg nach Hause, sie überwindet auch weitere Atemaussetzer, sechs schwere Lungenentzündungen und die künstliche Ernährung über eine Magensonde.

Das Mädchen fährt mit seinen Eltern auf sechs Jugendfreizeiten, die Wolfgang als Jugendreferent seiner ev. Kirchengemeinde leitet, fliegt in den Urlaub in die Türkei und zum Therapieschwimmen mit Delfinen nach Spanien. Jaël übersteht Jahr um Jahr, feiert Geburtstag um Geburtstag und trotzt damit der düsteren Prognose. Jaël ist ein liebevolles Kind, das die Fürsorge seiner Eltern mit zauberhaftem Lächeln und zärtlichen Umarmungen belohnt. "Wir haben gelernt, im Jetzt zu leben", sagt Shabnam und nennt die Zeit mit Jaël ein Geschenk.

Die Eltern bauen sich "kleine Oasen im Alltag", genießen es viel mehr als früher, mit einer Tasse Kaffee ein paar Minuten in der Sonne zu sitzen, den Magnolienbaum im Garten blühen zu sehen, mit guten Freunden zusammen zu sein.

Das Mädchen bleibt auf dem kognitiven Stand eines Babys. "Dass sie nie lernte zu krabbeln, dass sie nicht selbstständig sitzen konnte, geschweige denn aufrecht stehen oder laufen, all das war für uns schwer zu verkraften", erzählt Wolfgang Arzt. "Erst nach mehreren Jahren hatten wir uns damit abgefunden." Doch wenn man einen Menschen vor sich habe, "den man sehr liebt, geht man Schritt für Schritt: Die Kraft ist immer da." Jaël entwickelt eine Lichtempfindlichkeit, die es schließlich unmöglich macht, im Hellen nach draußen zu gehen. Das Tageslicht sehen die Eltern nur abwechselnd, weil einer von beiden immer bei der Tochter bleibt. Aber auch damit arrangieren sie sich. "Unser Leben mit Jaël hat uns gelehrt, dass das Leben ein Fest ist", schreiben sie. "Unsere Zeit mit ihr war gleichzeitig so lehrreich, weil sie uns Erkenntnisse über das Leben geschenkt hat, die nur durch das Bewusstsein des Todes möglich sind."

In ihrem 14. Lebensjahr wird Jaël zunehmend schwächer, schläft viel, verweigert schließlich die Nahrung. Begleitet wird die Familie vom Kinderpalliativteam "Sternenboot" der Uniklinik Düsseldorf, das zu ihnen nach Hause kommt. Jaël stirbt schließlich im Dezember 2014 im Bett ihrer Eltern in deren Beisein.

(EPD)
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