Solingen Von Gehröcken und Aulerschfabrikanten

Solingen · Stadtführungen Solingen: Mit Bürgermeister Axel Birkenbeul konnten rund 40 Teilnehmer die Geschichte des Höhscheider Westens erkunden.

Der Ernen vom Hingenberg, das muss ein rechter Jaulecker gewesen sein. Jaulecker meint mundartlich einen ganz Schlauen. Das betraf ihn nicht nur als Wirt einer Gaststätte mit dem vielsagenden Namen "Zum Wochenende" an der heutigen Bergerstraße. Voller Stolz präsentierte er unter Glas ein Polizeiprotokoll seinen Wirtshausbesuchern.

1835 hat der Ernen nämlich einen Taler und sechs Silberlinge als Strafe von der Obrigkeit aufgebrummt bekommen, weil er nach der Sperrstunde noch sechs Gäste hatte. "Das war schon ein raffinierter Kerl", berichtet Axel Birkenbeul. Denn neben seiner Wirtschaft betrieb Ernen auch eine lukrative Beerdigungsverleihanstalt. "Denn ohne Zylinder und schwarzen Gehrock konnte sich damals niemand auf einer Beerdigung blicken lassen."

Da ging man halt zum Ernen, um sich selbiges inklusive schwarzer Decken für die Pferde auszuleihen. Das Gebäude steht heute noch. An den beiden großen Fenstern zur Straße hin und dem überdachten Eingang kann man noch erkennen, dass es hier einmal gaststättlich munter zuging. Geschichte und Geschichten vermittelt informativ und mit Augenzwinkern Birkenbeul bei seiner Führung durch den Höhscheider Westen. Seit rund fünf Jahren ist er bei der Interessengemeinschaft Stadtführungen Solingen. Da ist der echte Höhscheider am richtigen Platz. Nicht nur ist er Bürgermeister des Stadtbezirks, sondern hat zwei Bücher über Höhscheid geschrieben. "Es macht mir einfach riesigen Spaß, Wissen zu vermitteln", sagt der pensionierte Lehrer. Bunt gemischt ist die rund 40-köpfige Gruppe, die sich auf dem Peter-Höfer-Platz eingefunden hat: von der jungen Familie mit Kinderwagen bis hin zu Großeltern. "Viele Ältere kommen, um sich an das alte Solingen zu erinnern. Aber auch viele Junge, die beispielsweise gerade erst hergezogen sind und etwas über ihre neue Gegend erfahren wollen." Zu entdecken gibt es viel auf dem Weg vom Denkmal zum alten Bleibergwerk - besonders, wenn Axel Birkenbeul den Blick fürs Detail schärft. "Wenn man die Bergerstraße sieht, meint man zunächst, da gebe es nicht viel zu gucken." Aber: Hinter fast jedem alten Haus gibt es einen kleinen Anbau oder einen Schuppen.

Reider, Plister und überhaupt fast alle rund um die Solinger Schneidwaren-Industrie waren hier tätig - und sind es zum Teil noch. "Die ganze Straße runter gab es die Aulerschfabrikanten": selbstständige Handwerker oft im Ein-Mann-Betrieb. "Und wenn sie sich manche der prachtvollen Wohnhäuser ansehen, wissen sie, dass da eine Menge Geld gemacht wurde."

Versteckt und idyllisch liegt die Hofschaft Hingenberg mit ihren malerisch hingewürfelten Fachwerkhäusern. "Wer Mittel übrig hatte, ließ die Westseite seines Hauses verschiefern." Denn von Westen kommt das Wetter und nagt am Fachwerk. Auf alten Fotos zeigt Birkenbeul, wie es früher ausgesehen ist: etwa am Hingenberger Pött - die Bachquelle war Mittelpunkt im Hofschaftsleben.

Aber auch um die große Geschichte geht es. Die wurde in Paris, Wien und Berlin gemacht. War Höhscheid erstmal nur eine Ansammlung von Hofschaften, so änderte sich das mit der napoleonischen Besatzung 1795. Neue Verwaltungsstrukturen brachten die Franzosen mit. Höhscheid wurde Bürgermeisterei. "Dazu gehörten Widdert, Katternberg, Aufderhöhe und Rupelrath bis nach Hackhausen." Nach dem Wiener Kongress kam Höhscheid zu Preußen. Selbstständige Stadt war der heute Solinger Bezirk von 1856 bis zur Gemeindereform 1929.

Stadtführer der ersten Stunde ist Dietmar Voigt. "Mit rund 30 Leuten haben wir 2004 angefangen." Am Beginn stand ein halbjähriger Lehrgang. "Die Idee war es, die vielfältigen Seiten der Stadt touristisch offensiv nach vorne zu bringen." Das interessiert auch Auswärtige, wie die große Nachfrage zeigt. 17 Aktive der Interessengemeinschaft bringen heute den Menschen die Klingenstadt näher. Besonders wichtig ist den Stadtführern ihre Unabhängigkeit. Voigt: "Wir wollten weder die komplizierten Strukturen eines Vereins haben, noch von der Stadt abhängig sein."

So ist die Arbeit ehrenamtlich. Ohne öffentliche Zuschüsse kann sich die Interessengemeinschaft durch Mitgliedbeiträge und die Einnahmen durch die Führungen finanzieren. "Insgesamt hatten wir im vergangenen Jahr 2150 Besucher." Sehr beliebt sind auch die Führungen für Busgruppen von auswärts. Die sind auch ein kleiner wirtschaftlicher Impuls. "Wenn man umrechnet, dass jeder Teilnehmer rund 20 Euro beim Kaffeetrinken und beim Werksverkauf ausgibt, so sind 2015 rund 32.000 Euro in Solingen geblieben." Das ist ein schönes Beispiel dafür, dass Kultur und Geschichte alles andere als Zuschussgeschäfte sind.

(crm)
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