Interview: Im Blickpunkt Die Schärfste Klinge "Wie eine Diktatur Menschen kaputt macht"

Solingen · Diese Frage mag Herta Müller gar nicht: Wann sie denn einen Roman schreibe, der in Deutschland spiele? "Darüber schreibe ich schon die ganze Zeit, nur mancher merkt das nicht." Sie lebe in Deutschland mit einem deutschen Pass und einer deutschen Sprache.

Nachdem die Literaturnobelpreisträgerin am Freitagabend im Theater und Konzerthaus den Ehrenpreis der Stadt, die Schärfste Klinge, entgegen nahm, versammelte sich ein zahlreiches Publikum am Samstag im Konzertsaal. Hier las Herta Müller aus ihren Werken und sprach über ihr Leben. "Nicht nur für ihr literarisches Werk, sondern auch für Authentizität haben wir Herta Müller diesen Preis verliehen", sagte einleitend Oberbürgermeister Norbert Feith. "Es geht um das universelle Thema der Menschenrechte."

Moderiert wurde die Lesung von Ernest Wichner. Der Schriftsteller ist nicht nur Leiter des Literaturhauses Berlin, sondern auch Freund und Weggefährte Herta Müllers seit Jugendtagen an. "Ich wollte keine Literatur schreiben, sondern einen Halt finden", zitierte Wichner aus Müllers neuem Buch "Mein Vaterland war ein Apfelkern". Schreiben wird zur Selbstvergewisserung, Dichten zu einem Selbstschutz, wenn man nicht nur die Securitate im Genick hat. Sondern auch die eigenen deutschsprachigen Landsleute. Herta Müller las aus ihrem Erstling "Niederungen" (1982) die Geschichte "Meine Familie" - eine witzige Parodie auf die Prüderie.

In kunstvollen Spiralen wird erzählt, dass letztendlich alle im Dorf unehelich sind und ebensolche Kinder haben. Der Aufschrei der Deutschstämmigen war groß. "Damit hatte ich gar nicht gerechnet", erläutert die Autorin. "Ich habe es dann ganz dick abbekommen, weil ich das Deutschtum in den Dreck gezogen hätte." Und das alles nur, weil man Literatur eins zu eins für Realität genommen hat. Intensiver Höhepunkt waren Herta Müllers Erinnerungen an ihren Freund, den aus Siebenbürgen stammenden Lyriker Oskar Pastior und die Lesung aus dem Roman "Atemschaukel".

"Wie meine Mutter, wurde Pastior nach Kriegsende in ein Arbeitslager der Ukraine verschleppt." Lange haben Müller und Pastior über ein gemeinsames Buch nachgedacht, dass diese Erlebnisse in Literatur verwandelt. "2006 ist Pastior gestorben. Nach einem Jahr der Trauer habe ich dann ein eigenes Buch geschrieben - auch über den Verlust des Freundes."

Ohne Pastiors mitgeteilte Erinnerungen wäre das Buch nicht zustande gekommen. Das unplanmäßige Schlusswort kam von einem sichtlich bewegten Giora Feidman. Mal mit seiner Klarinette lachend, mal weinend, mal unendlich zarte Töne hervorzaubernd, schlug der unumstrittene König der Klezmermusik die Zuhörer in seinen Bann.

Die fein gesponnenen Worte der Dichterin und die wie aus der Ferne heranschwebenden Töne des Musikers verbanden sich zu einem eindringlichen Erlebnis. Nicht nur eine fantastische Herta Müller habe ihn tief beeindruckt. Der in Israel lebende Virtuose kommt immer wieder gerne nach Deutschland, denn hier sei das Zusammenleben von Christen und Juden vorbildlich. So ein Miteinander wünscht sich Feidman für Israelis und Palästinenser. Wie das gemeinsame Singen mit dem Publikum im Konzertsaal: "Dos Kelbl".

Der Lied-Text handelt von einem Kalb, das zum Schlachter gebracht wird. Der Autor, Itzchak Katsenelson, wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Herta Müller zitierte den Refrain: "Lacht der Wind im Korn, lacht und lacht und lacht." Schicksalsergebenheit? Nicht bei der Nobelpreisträgerin.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort