Solingen Zentrum für verfolgte Künste ist da, lebt aber noch nicht

Solingen · 26 280: Die Zahl hört sich unspektakulär an. Es könnte sich um ein Jahreseinkommen handeln, eine Telefon- oder Katalognummer. Tatsächlich stehen diese fünf Ziffern für eines der wahrscheinlich wichtigsten Projekte zur Aufarbeiten von Nazi-Zeit speziell und Diktaturen allgemein. Es geht um das Zentrum für verfolgte Künste, dass im Februar an den Start gegangen ist. 26 280 ist die nun eingetragene Handelsregisternummer.

Das Zentrum ist im Kunstmuseum Solingen untergebracht. In der Betriebsgesellschaft sind zu zwei Dritteln der LVR und zu einem Drittel die Stadt Solingen beteiligt. Zentrale Stücke des Zentrums sind die Bilder aus der Sammlung Gerhard Schneider: verfolgte und verfemte Maler überwiegend aus der Nazizeit. Zweite Säule ist die Sammlung Jürgen Serke über die "verbrannten Dichter", die die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft in das Zentrum eingebracht hat. Neben der Verfolgung durch die Nazis werden hier auch die Verfolgten aus der Zeit des Kommunismus dokumentiert. Nun hängen die Bilder schon lange an den Wänden und die Bücher liegen schon lange in den Vitrinen.

Hajo Jahn (73), Vorsitzender der mitbeteiligten Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, ist das zu wenig. "Das Zentrum besteht offiziell, aber es lebt noch nicht." Das sei kaum möglich, wenn es bisher nur einen hauptamtlichen Mitarbeiter gebe - und bei einem jährlichen Budget von 290 000 Euro von Seiten des LVR und 145 000 Euro von Seiten der Stadt. "Wenn hier nicht wie in einem traditionellen Museum oder ähnlich wie in vorhandenen Einrichtungen, die sich Teilaspekten der Thematik widmen wie die deutsche Nationalbibliothek, das deutsche Exilarchiv, im wissenschaftlichen Elfenbeinturm gearbeitet werden soll, sondern tatsächlich nach außen wirkend, braucht das Zentrum mehr Mitarbeiter", so Jahn: Pädagogen, Archivare, Fachleute für Literatur, Musik und Öffentlichkeitsarbeit. "Zudem ist ein Anbau am Museum nötig, in dem Filme und Ausstellungen gezeigt oder ad-hoc-Veranstaltungen durchgeführt werden können. Pläne dazu liegen ja vor."

Zu Letzterem hätte sich Hajo Jahn, der bereits 1994 den Stiftungsaufruf für ein Zentrum verfasst hat und Mitwirkung von Institutionen wie dem "Exil-PEN", der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft oder "Journalisten ohne Grenzen" für notwendig hält, eine kurzfristig machbare Veranstaltung nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" gewünscht: etwa eine Diskussion und Workshops für Jugendliche über Meinungsfreiheit. Das sei bei der momentanen Ausstattung nicht möglich. Mehr Mitarbeiter und ein Anbau kosten Geld. Hier sieht Hajo Jahn den Bund in der Pflicht. So wie dieser sich etwa am Zentrum für Vertreibung beteiligt.

Jahn mahnt eine neue Kultur der Erinnerung an Nazizeit und Holocaust an. "Was wir heute erleben, sind eingefahrene Gedenkrituale", sagt der ehemalige WDR-Studioleiter. So habe beispielsweise die Bundeskanzlerin bei der zentralen Gedenkfeier für die Opfer der NSU-Morde am 23. Februar 2012 im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt die üblichen Amtsträger und nicht zuerst die betroffenen Angehörigen begrüßt. Mit einem solchen Gedenkformalismus erreicht man auch keine Jugendlichen - erst recht nicht jene, die durch Migrationshintergrund vielleicht gar keine Verbindung zur deutschen Geschichte haben. Eine angemessene Gedenkkultur und Pädagogik werde gebraucht, um dieses Thema im Focus zu behalten. "Dazu gehört auch, dass wir Begriffe von heute nehmen: Else Lasker-Schüler, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Lilli Palmer, Billy Wilder, Max Ernst, Walter Gropius, Arnold Schönberg, Willy Brandt oder Albert Einstein wären heute Asylbewerber." All das werde ohne vernünftige finanzielle Ausstattung wie beim Zentrum gegen Vertreibung kaum möglich sein. Dabei, so Jahn, "hat die Vertreibung 1933 mit dem Exodus der Künstler und Intellektuellen begonnen. Die Vertreibung von 1945 war die Folge von 1933."

(RP)
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