Tönisvorst Erinnern an Damals und Zeichen setzen ins Heute

Tönisvorst · Etwa 150 Menschen, so viele wie nie zuvor in den vergangen zehn Jahren, erinnerten an die Reichpogromnacht 1938.

 Etwa 150 Tönisvorster trafen sich am Montagabend am Portal von St. Cornelius zum Gedenkzug zur Pogromnacht vor 77 Jahren.

Etwa 150 Tönisvorster trafen sich am Montagabend am Portal von St. Cornelius zum Gedenkzug zur Pogromnacht vor 77 Jahren.

Foto: WOLFGANG KAISER

Es ist beeindruckend, diesen Zug zu sehen. Etwa 150 Menschen aus allen Generationen gehen am Montagabend mit Kerzen in der Hand schweigend durch die St. Töniser Innenstadt. Sie gedenken der jüdischen Mitbürger, die in Tönisvorst gelebt haben, bis sie von den Nationalsozialisten verjagt, deportiert und getötet wurden. Einen ersten Höhepunkt fand die Judenverfolgung der Nazis in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Damals wurden Synagogen angezündet, Schaufenster jüdischer Geschäfte eingeschlagen, Wohnungen, in denen Juden lebten, verwüstet und jüdische Friedhöfe geschändet.

"Erinnern statt vergessen" ist das Motto des Schweigemarschs, zu dem sich jedes Jahr am Abend des 9. November Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren an der katholischen Pfarrkirche in St. Tönis treffen. So viele Teilnehmer wie in diesem Jahr allerdings hat es noch nie gegeben. Offensichtlich ist es vielen Menschen wichtig, in Zeiten, in denen Flüchtlingsunterkünfte brennen und rechte Gruppierungen Zulauf finden, ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen.

Sehr engagiert in diesem Bereich sind seit Jahren die weiterführenden Schulen. In diesem Jahr tragen Ella Haun, Chantal Mehn, Anna Tellers und Oasyimwem Osemwegie aus der Jahrgangsstufe 7 der Sekundarschule einen Text aus dem Buch "Sternenkinder" von Clara Asscher-Pinkhof vor. Am Haus Hochstraße 29 erinnert Justus Jansen aus der Jahrgangsstufe 9 des Michael-Ende-Gymnasiums an Kurt und Senta Baum, die dort bis 1938 lebten. Das junge Paar emigrierte in die Niederlande, wurde aber 1940 von den Nazis geschnappt und nach Ausschwitz deportiert, wo die beiden St. Töniser mit gerade mal 30 Jahren starben. "Für die Opfer des braunen Terrors tragen wir heute Lichter durch die Stadt", sagt der 14-Jährige in seiner Rede und appelliert an die Zuhörer, sich schützend vor die Menschen zu stellen, die, wie das Ehepaar Baum damals, heute aus ihrer Heimat fliehen mussten.

Vor den Häusern Hochstraße 65 und 67 ist es Bürgermeister Thomas Goßen, der an die 25 Menschen jüdischen Glaubens erinnert, die dort gelebt haben und deren Namen in Stolpersteinen verewigt sind. "Es waren Menschen, denen die Würde genommen wurde und denen alles abhandengekommen ist", sagt der Bürgermeister. Die junge Bundesrepublik habe auch aus dieser Geschichte heraus den ersten Artikel des Grundgesetzes so formuliert, wie er bis heute gültig ist.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", zitiert daran anknüpfend wenig später an der Kolpingstraße Jil Pempelfort, stellvertretende Schülersprecherin des Michael-Ende-Gymnasiums. Gemeinsam mit Schülersprecher Joao Kley, der in seiner Rede zu Respekt und Toleranz aufruft und eine Gesellschaft voller Liebe, Brüderlichkeit und Freundschaft fordert, legt sie einen Kranz am Mahnmal vor dem Krankenhaus nieder, wo bis zum November 1938 die jüdische Synagoge von St. Tönis stand.

Abschließend beten die evangelische Pfarrerin Daniela Büscher-Bruch und die katholische Gemeindereferentin Stefanie Müller-Bellen gemeinsam. Auch sie rufen dazu auf, nicht wegzuschauen, wenn Hilfe gebraucht wird: "Gott hat uns Augen gegeben, die Not der anderen zu sehen."

(WS03)
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