Brüggen Als der Wolf durchs Grenzland streifte

Brüggen · Vor 200 Jahren griff ein Wolf ein Mädchen auf dem Weg von Bracht nach Breyell an. Damals war das keine Seltenheit. Die Wolfsplage im Land war derart groß, dass die preußische Regierung Prämien für jeden erlegten Wolf auslobte

 Jedes Kind kennt das Märchen vom Rotkäppchen, das auf dem Weg zur Großmutter dem Wolf begegnet. Diese Illustration stammt aus dem 19. Jahrhundert — damals hatten auch die Menschen im Grenzland große Angst vor Wölfen.

Jedes Kind kennt das Märchen vom Rotkäppchen, das auf dem Weg zur Großmutter dem Wolf begegnet. Diese Illustration stammt aus dem 19. Jahrhundert — damals hatten auch die Menschen im Grenzland große Angst vor Wölfen.

Foto: dpa

Es ist der 23. August 1817. Ein elfjähriges Mädchen, Tochter des Matthias Glasmachers aus Bracht, ist zu Fuß unterwegs nach Breyell. Das Kind hat eine Aufgabe, es soll Kaffee holen. Doch plötzlich kommt ein Wolf aus dem Gebüsch. Er verfolgt das Kind. Das Mädchen beginnt zu rennen, doch der Wolf ist schneller. Mit einigen Sprüngen hat er das Kind erreicht, schnappt zu. Er hält es fest, zerrt es zu einem Birkengebüsch. Dann flüchtet der Wolf, ohne das Mädchen groß zu verletzen, mit einem Teil der Schürze und des Leibchens im Maul.

Aus einer Brachter Familienchronik stammt dieses Ereignis, das Hermann Hauser aufgeschrieben hat. Der Wolfsangriff von 1817 ist keineswegs der erste in der Region. So greift ein reißender Wolf am Abend des 25. September 1810 den siebenjährigen Peter Heinrich Poethen in der Nähe des Kastells Haus Schleveringhoven bei Bracht an. Am Morgen werden die sterblichen Überreste des Kindes auf einem Acker am Brüggener Weg gefunden, der kleine Peter wird auf dem Brachter Kirchhof beigesetzt. Auch in Beesel, in Oebel, in Niederkrüchten, Helden und Arsbeck werden Kinder von Wölfen angegriffen und getötet, berichten Chronisten. Die Angst vor dem Wolf begleitet die Menschen der damaligen Zeit stets.

Über Jahrhunderte hinweg ziehen Wölfe durch das Grenzland. In Chroniken wird von ausgedehnten Wolfsjagden berichtet, in Kirchenbüchern finden sich Sterbeeinträge der Opfer. 1557 wird im Brachter Wald eine Wolfsjagd abgehalten. 1685 wird ein Einwohner aus Swalmen, Hermann Heuskens, bei einer Wolfsjagd durch einen Schuss aus einem Gewehr lebensgefährlich verletzt. 1711 beklagen Einwohner der Gemeinde Beesel große Schäden an Pferden und Kühen. 1797 berichtet der Rat des Kantons Venlo an den Rat des Kantons Roermond, dass sich in verschiedenen Gemeinden Wölfe in großer Zahl breitgemacht haben, "sehr schädliche und gefährliche Tiere", die man ausrotten müsse.

Wie viele Wölfe damals in der Gegend leben, ist nicht bekannt, doch die Tiere vermehren sich hier auch: Im Jahr 1800 graben Elmpter Einwohner sieben Wolfsjunge aus ihrer Höhle aus - vier Welpen aus einem Wurf, drei aus einem anderen. Im gleichen Jahr berichtet der Bürgermeister von Venlo von der Gefahr, die von Wölfen ausgeht, die sich den Vororten nähern. 1806 gibt es Klagen aus Maasniel, Swalmen, Elmpt und Beesel - auch dort machen Wölfe die Umgebung unsicher.

Immer wieder werden Prämien für getötete Wölfe ausgelobt. 1809 gibt die französische Regierung bekannt, dass derjenige, der eine trächtige Wölfin tötet, 18 Francs erhält. Für eine nicht-trächtige Wölfin gibt es 15 Francs, für ein männliches Tier zwölf Francs, für ein Wolfsjunges drei Francs. 1817 veröffentlicht die königlich-preußische Regierung ebenfalls eine Liste. Danach gibt es für eine alte Wölfin zwölf, für einen alten Wolf zehn Taler. Wer einen jungen Wolf tötet, erhält acht Taler. Im Grenzland werden die Jagden fortgesetzt. Im Januar 1835 verlieren Bauern an der Boisheimer und Dülkener Nette einen Hund und drei Gänse an einen Wolf. In einem Wäldchen entdecken sie das Tier, töten es. Erfolglos verlaufen zwei Jagden im Mai 1845, an denen auch die Bürgermeister aus Brüggen und Kaldenkirchen teilnehmen: Die Jäger entdecken keinen erwachsenen Wolf, sondern nur drei Jungtiere, die sie töten. Auch in anderen Regionen werden Wölfe massiv verfolgt. Mitte des 19. Jahrhunderts gelten sie in Deutschland als ausgerottet.

150 Jahre später ist der Wolf wieder da: Im Jahr 2000 wird in der Lausitz ein Rudel nachgewiesen. Seither ist der Bestand gewachsen. Noch gibt es keine Wolfsrudel in Nordrhein-Westfalen. Doch dass die Tiere hier wieder heimisch werden, ist wahrscheinlich: "In Niedersachsen gibt es Wölfe, und mit der Geschlechtsreife verlassen junge Tiere das Rudel", erklärt Markus Heines, Wolfsbotschafter beim Naturschutzbund (Nabu) Deutschland. Insofern tauchten durchlaufende Tiere auch in NRW auf.

Überwiegend ernähre sich der Wolf von Rehen, berichtet Heines. Das wisse man aus umfangreichen Kot-Untersuchungen. Neben Rehen stehen auch Rot- und Schwarzwild auf dem Speiseplan des Wolfs. Vereinzelt können Maus oder Biber hinzukommen, auch Nutztiere. Deshalb gebe es in Wolfsgebieten Vorgaben, wie man Nutztiere durch Zäune und Herdenschutzhunde sichere, erklärt der Experte.

Der Mensch hingegen passe nicht ins Beuteschema des Wolfs, betont Heines: "Der Wolf hat Respekt vor Menschen." Und weshalb griffen Wölfe dann vor 200 Jahren Kinder an? Zwei Faktoren könnten als Ursache in Frage kommen, erklärt Heines: Zum einen die damals übliche Feudaljagd, die nur Adeligen die Jagd auf Hochwild wie Hirsch und Wildschwein erlaubte. Die Adeligen machten davon intensiv Gebrauch, "dadurch war das Hochwild in den Wäldern praktisch ausgerottet", sagt Heines. Große Beute konnte der Wolf dort also nicht machen. Auch tollwütige Tiere hätten große Schäden angerichtet, so Heines.

Seit 2008 gilt Deutschland als tollwutfrei, in den Wäldern leben wieder größere Beutetiere. Angst vor dem Wolf müsse niemand haben, betont Heines - auch wenn man die Geschichten von damals und das Märchen vom Rotkäppchen kennt. Heines: "Die Brüder Grimm haben dem Wolf ziemlich geschadet."

(RP)
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