Viersen Analphabetismus: Wenn Erwachsene Lesen und Schreiben lernen

Viersen · Der Einkauf im Supermarkt, das Lesen von Rezepten oder das Ausfüllen von Dokumenten – Menschen, die nicht lesen und schreiben können, kommen im Alltag schwer zurecht. Um das zu ändern, besuchen sie einen Analphabetenkursus.

 Mehr als sieben Millionen Menschen in Deutschland gelten als funktionale Analphabeten. Im Alphabetisierungskursus lernen sie lesen und schreiben.

Mehr als sieben Millionen Menschen in Deutschland gelten als funktionale Analphabeten. Im Alphabetisierungskursus lernen sie lesen und schreiben.

Foto: BUsch

Der Einkauf im Supermarkt, das Lesen von Rezepten oder das Ausfüllen von Dokumenten — Menschen, die nicht lesen und schreiben können, kommen im Alltag schwer zurecht. Um das zu ändern, besuchen sie einen Analphabetenkursus.

"meim Name ist Andrea" steht in großen Buchstaben an der Tafel in Raum 2105 des Erasmus-von-Rotterdam-Gymnasiums. Geschrieben hat das eine 45-Jährige. Andrea Lieb ist eine von fünf Teilnehmern des Analphabeten-Kurses der Volkshochschule. Einmal in der Woche nehmen hier Menschen Platz, die mit Mitte 40 endlich die Welt voller Buchstaben und Wörter verstehen wollen.

Bisher hat sie eine ausgeprägte Lese- und Rechtschreibschwäche daran gehindert — funktionaler Analphabetismus nennt sich das. Mehr als sieben Millionen Erwachsene in Deutschland sind davon betroffen. Sie lesen und schreiben auf dem Niveau von Grundschülern.

Die Gründe dafür sind unterschiedlich: "Ich war zu faul", sagt Petra Rausch (47). Salvatore Scigliano ist aus Italien nach Deutschland gekommen. "Ich war in meinem ganzen Leben eine Woche lang in der Schule", sagt der 56-Jährige. Jetzt sitzt er regelmäßig bei Jutta Kaas im Kursus und schreibt Diktate, lernt, was Vokale sind und dass "Kaas" den gleichen Anfangsbuchstaben hat wie "Karstadt". "Wir fangen wirklich ganz unten an", erklärt Kurs-Leiterin Kaas.

Petra Rausch ist jetzt seit zwei Semestern dabei. Das Lesen gelinge ihr schon gut, mit dem Schreiben habe sie aber noch zu kämpfen. "Beim ,sch' vergesse ich oft das ,s', ich kann auch nur schwer zwischen ,ai' und ,ei' unterscheiden", sagt sie. Salvatore Scigliano hat größere Probleme, sich im Buchstaben-Dschungel zurechtzufinden. "Ich schreibe nur das, was ich weiß", sagt er. Auf einem Einkaufszettel, den ein Freund für ihn geschrieben hat, steht "Wasser". Daneben in Großbuchstaben "VW". "Ich weiß, dass Wasser mit einem ,W' geschrieben wird, weil ich das Wort ,VW' kenne", sagt der Wuppertaler.

Es sind Eselsbrücken, mit denen er im Alltag zurechtkommt. Manchmal helfen aber auch die nicht mehr — und dann ist Fantasie gefragt. "Die Menschen entwickeln teilweise tolle Strategien, um ihre Lese- und Schreibschwäche zu verbergen", berichtet Jutta Kaas. Da werde zufällig die Brille zu Hause vergessen oder der eigentlich gesunde Arm eingegipst, um dem Ausfüllen von Dokumenten zu entfliehen.

Petra Rausch will sich nicht verstecken, sagt sie. "Ich gehe offen damit um, mir ist das nicht peinlich." Zwei ihrer Freunde hätten ähnliche Probleme. Doch die würden sich nicht zum Kursus trauen, sagt Rausch. Andrea Lieb hat der offene Umgang mit ihrem Handicap weiter gebracht. Ihr sei es immer wichtig gewesen, mobil zu sein. Deswegen wollte sie unbedingt den Führerschein machen. Doch wie sollte sie die theoretische Prüfung bestehen? "Die Fahrschule hat mir dann geholfen", erzählt die 45-Jährige. Die Lösung sah so aus, dass ihr die Prüfungsfragen vorgelesen wurden. Beim ersten Mal habe es nicht geklappt, im zweiten Anlauf hätte sie dann aber bestanden, berichtet die Altenpflegerin.

Sie besucht seit mehreren Semestern den Kursus, und sie habe schon viel lernen können, sagt sie. Petra Rausch könnte hingegen noch längere Zeit Analphabetin sein. Ihr wurden die Zuschüsse vom Jobcenter gestrichen. "Die haben mir gesagt, dass zwei Semester reichen würden. Wie soll ich denn in 50 Unterrichtsstunden lesen und schreiben lernen?" Ohne Unterstützung könne sie sich die Kursgebühr nicht leisten.

Jutta Kaas ärgert sich über die Maßnahme: "Ich finde, dass Grundbildungsangebote kostenlos sein müssten. Es ist doch eine Schande, dass es in einem so reichen Land wie Deutschland so viele Menschen gibt, die nicht lesen und schreiben können." Die Lehrerin muss in Zukunft noch kompakter unterrichten, denn anstatt an 14 Abenden wird dann nur noch an zwölf Abenden gelernt. Der Grund: Es kommen zu wenig Menschen zum Analphabeten-Kursus.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort