Brüggen Brachter fanden bei Linssens die Liebe

Brüggen · 1903 kam die Familie Linssen nach Bracht. Sie betrieben Landwirtschaft und bewirtschafteten eine Gaststätte mit kleinem Saal. Damals ahnte wohl niemand, dass dieser Saal einmal zum kulturellen Mittelpunkt des Ortes werden sollte.

 Amicitia Bracht führte im Jahr 1947 die Operette „Winzerliesel“ im Saal Linssen auf

Amicitia Bracht führte im Jahr 1947 die Operette „Winzerliesel“ im Saal Linssen auf

Foto: Winfried F�sers

Umgeben von vielen Bildern und mit zahlreichen Erinnerungen im Kopf blickt Roswitha Kessels, Inhaberin des ehemaligen Haus Linssen, auf die Geschichte jenes Saals zurück, in dem so mancher Brachter sein Liebesglück fand.

 Viele Fotos erinnern Roswitha Kessels, geborene Linssen, an die Veranstaltungen im Saal Linssen.

Viele Fotos erinnern Roswitha Kessels, geborene Linssen, an die Veranstaltungen im Saal Linssen.

Foto: Busch, Franz-Heinrich

Alles fing an mit Johann und Barbara Linssen, geborene Peters, die sich mit der Gaststätte eine Existenzgrundlage schafften, die auch die Kriegsjahre überdauern und die Zukunft ihrer drei Kinder Therese, Johannes und Emilie sichern sollte.

Johann Linssen, der Großvater von Roswitha Kessels, starb am 3. Oktober 1928 und konnte die Einweihung der Saalerweiterung nicht mehr miterleben. Seine Frau Barbara hielt tapfer durch und führte das Geschäft und die Familie weiter. Am 22. Mai 1941 verstarb auch sie. "Mein Onkel und meine Tante haben die Gaststätte und den Saal weiter betrieben. Mit meiner Mutter Emilie wohnte ich bei den Geschwistern an der Königstraße", sagt Roswitha Kessels. Der Vater kam nur für ein paar Urlaubstage während des Krieges zu Besuch. "Er ist sehr früh eingezogen worden und geriet später in russische Kriegsgefangenschaft. Dass er in einem Lazarett am 10. März 1946 gestorben ist, erfuhren wir erst nach der Öffnung der russischen Akten 1998", sagt Roswitha Kessels.

Während des Krieges wurde der Saal zeitweise zur Unterstellung von Materialien aus zerbombten Düsseldorfer Häusern genutzt. "Meine Tante hat sehr lange alleine in Bracht ausgeharrt, doch irgendwann wurde auch sie gezwungen, den Ort zu verlassen. Mit ihrem Ochsen ist sie zu Fuß zu Verwandten nach Neviges gezogen. Wir waren zuvor im Harz in Quedlinburg untergekommen, mein Onkel war ebenfalls in Kriegsgefangenschaft geraten", sagt Roswitha Kessels. "Sobald sie durfte, kam meine Tante zurück nach Bracht und hat den Spediteur Alfred Maske mit Schinken bezahlt, um uns in Quedlinburg abzuholen. Mit 20 Leuten auf dem LKW sind wir wieder hierhin zurückgekommen."

Später war der Saal Linssen vor allem im Herbst und Winter, zu Karneval und während des Schützenfestes ausgebucht. Rund 30 Veranstaltungen fanden dort pro Jahr statt. Sogar der Kölner Sänger Willy Schneider ("Schütt die Sorgen in ein Gläschen Wein", "Man müsste noch mal 20 sein") trat im Saal Linssen auf. "Willy Schneider hat sich bei uns in der Küche am Spiegelei ergötzt, es gab doch damals nicht viel", erzählt Roswitha Kessels.

Und der Don Kosaken Chor von Serge Jaroff - 1921 in einem Internierungslager in der Türkei zusammengestellt - war bei Linssen zu Gast. "Serge bekam vor dem Auftritt einen Kamillentee für seine Stimme", sagt die Brachterin. "Der Amicitia Chor war damals der Veranstalter des Konzerts. Das war eine Sensation in Bracht, der Saal war proppevoll." Der damalige Brachter Theaterverein führt auf der Saalbühne das Singspiel "Winzerliesel" auf, inszeniert vom Quartettverein Amicitia Bracht. Und viele Bälle wurden dort veranstaltet. Vom Brachter Sankt Martinsverein beispielsweise. Oder das noble Rosenfest im Sommer, zu dem Wein statt Bier ausgeschenkt wurde und wo es statt der üblichen Papierdecken dann auch Damastdecken auf den Tischen gab.

Und dann war da noch die Sache mit der Liebe: Laut Heiner Kessels, dem Ehemann von Roswitha, waren es einige Hundert Paare, die sich bei solchen Gelegenheiten im Saal Linssen kennen und lieben lernten. "Wenn wir Nachschub aus dem Kühlhaus holen musste, habe ich oft wegschauen müssen, denn in den versteckten Winkeln hinter und neben dem Saal fanden sich die Paare in trauter Zweisamkeit", sagt er.

In den 50er-Jahren gab es Boxveranstaltungen im Saal. Auf der Bühne wurde dann eine Sparring-Arena aufgebaut. "Der hiesige Boxverein hatte gute Verbindungen zum damals angesehenen Dülkener Boxverein, der selber keinen Raum für Boxveranstaltungen hatte", sagt Kessels. Anfang der 60er-Jahre wurden Jugendbälle bei Linssen gefeiert. Sie endeten um 19 Uhr, damit auch die 14- und 15-Jährigen teilnehmen konnten. "Vor Beginn standen um die 400 Jugendliche auf der Straße und begehrten Einlass", sagt Heiner Kessels. Es blieb immer friedlich, denn Alkohol wurde natürlich nicht ausgeschenkt.

Roswitha und Heiner Kessels bauten 1961 ihr Haus in Bracht, der sehr krank aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Onkel und ihre Tante zogen mit in das Haus. Die Gaststätte war vermietet worden, der Wirt wollte allerdings den Saalbetrieb nicht übernehmen. So kümmerten sich die Familien Linssen und Kessels darum. Innerhalb kurzer Zeit verstarben dann Therese und Johannes Linssen.

Heute befindet sich ein Getränkemarkt im damaligen Saal und in der ehemaligen Gaststätte eine Praxis, darüber ist noch eine Wohnung. Eine Ära für Bracht ging zu Ende, die für den Ort und alle Menschen, die sich im Saal Linssen trafen, sehr bedeutsam war.

(bigi)
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