Viersen Harter Stoff statt Puppenspiel-Idylle

Viersen · Fans des Puppentheater-Erneuerers Neville Tranter wissen gemeinhin, was sie erwartet. In der Festhalle in Viersen zeigte er mit "Mathilde" anrührende, auch grausame Szenen aus dem Altersheim.

 Mathilde feiert ihren 102. Geburtstag im Altersheim. Sie sehnt sich nach einem Lebenszeichen ihres einstigen Geliebten.

Mathilde feiert ihren 102. Geburtstag im Altersheim. Sie sehnt sich nach einem Lebenszeichen ihres einstigen Geliebten.

Foto: Stuffed Puppet Theatre

Die Geschichte von Mathildes 102. Geburtstag beruht auf wahren Begebenheiten. Und die Idee, pflegebedürftige Senioren im Heim mit Handys auszustatten, um Betreuungspersonal zu sparen, entspringt nicht etwa der Fantasie des australischen Puppenspielers Neville Tranter. Dies und einiges mehr zum Stück und seinem Schöpfer erfuhren Festhallenbesucher vor der Aufführung bei einer kurzen Einführung durch Kulturabteilungsleiterin Brigitte Baggen und Tranters niederländischen Spielpartner Wim Sitvast. Der gibt im Stück den stummen und namenlosen Krankenpfleger und erklärte, dass solch eine Inszenierung keineswegs in Stein gemeißelt ist, sondern sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt.

Baggen versäumte nicht den Hinweis auf die Bedeutung Tranters als Erneuerer des zeitgenössischen Puppentheaters. Erhellend war auch die Zuordnung der von Tranter selbst gestalteten, menschengroßen Figuren in die Gattung der Klappmaulpuppen, der beispielsweise auch die Charaktere der populären "Muppets" angehören.

Ein entscheidender Unterschied zu Ernie und Bert wurde nach Beginn des Stückes bald deutlich: Die von Tranter erschaffenen Kreaturen entfalten eine anrührende Wirkung, die weit über die ihrer amerikanischen TV- und Leinwand-"Artgenossen" hinausgeht: Zwar findet sich deren typischer lakonischer Humor durchaus auch in Tranters Puppenspiel, doch überwiegen in der Seniorenheim-Farce von der 102-jährigen Jubilarin, die sich ungebrochen nach einem Lebenszeichen des einstigen Geliebten sehnt, jene Momente, für die das viel bemühte Bild vom Lachen, das im Halse stecken bleibt, immer noch die treffendste Beschreibung bietet.

Wenn etwa eine Bewohnerin der Pflegeeinrichtung mit dem verheißungsvollen Namen "Casa Verde" sich einnässt vor Verzweiflung, ist das ein erschütternder Moment, in der Neville Tranter die Zuschauer schonungslos mit der diffusen Angst vor der eigenen Gebrechlichkeit konfrontiert. Angesichts derart intensiver Momente verzeiht man die arg plakative Ausgestaltung der "Bösen" in Gestalt des zynisch-geldgierigen Heimleiters und seines schwarz gewandeten Geschäftskumpanen. Ihre eindringlichsten Momente erfährt die Inszenierung da, wo Tranter die Distanz zwischen Puppe und Puppenspieler aufbricht, wo Schöpfer und Geschöpf ins Zwiegespräch treten. Wenn der Handpuppen-Charakter in grenzenloser Vereinsamung und grenzdebilem Wahn einen Gesprächspartner herbeihalluziniert, ist der Puppenspieler als Besetzung schlicht die naheliegendste Lösung. Im Finale gibt Tranter dem Fantasiebild vom Geliebten Jean-Pierre Gestalt. In Wahrheit aber verkörpert der, der dieses puppentheatralische Universum erschaffen hat, dessen allerletzte Instanz, den Tod.

(dmai)
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