Viersen Hinter den Kulissen des Orpheums

Viersen · Ein Besuch in der Parallelwelt auf der anderen Seite des Vorhangs

 Scheuer Blick durch den Vorhang vor Beginn: Matthias Sips wagt den Blick in die Menge.

Scheuer Blick durch den Vorhang vor Beginn: Matthias Sips wagt den Blick in die Menge.

Foto: Röse

W ÄHREND die Menschen zu Hunderten an diesem Samstagabend zur letzten Sitzung der Orpheumsbrüder in den Dülkener Bürgersaal strömen und erwartungsfrohe Blicke auf den noch geschlossenen Vorhang werfen, steht ein Mann einsam dahinter. Er hat rote Wangen und eine Nase, um die ihn Cyrano de Bergerac beneiden würde. Und vermutlich einen nervösen Puls, der auf Dauer nicht gesund ist - aber ganz normal, wenn das Lampenfieber den Körper befällt. Matthias Sips, Vizepräsident des Orpheums, lugt durch einen schmalen Spalt in den Saal, blickt auf die Menschenmassen. Noch gut fünf Minuten, dann wird er hinaustreten auf die Bühne, im Licht der gleißenden Scheinwerfer stehen - und noch ein bisschen mehr schwitzen.

Was das Orpheum Jahr für Jahr im Bürgersaal veranstaltet, hat mit einer handelsüblichen Karnevalssitzung ungefähr so viel zu tun wie ein Maserati mit einem Kleinwagen. Nicht, dass es nicht schöne Kleinwagen gäbe! Aber die Überholspur gehört nun mal dem Maserati. Entsprechend viele Menschen besuchen die burleske Show mit Sangeseinlagen, einem liebevoll erstellten Bühnenbild und einer Bühnentechnik, die einem professionellen Theater in Nichts nachsteht. Und weil all die Akteure im wahren Leben einem seriösen Beruf nachgehen, steckt neben Leidenschaft auch akribische, monatelange Vorbereitung in jeder Aufführung. Oder, wie es Marga Fiedler auf den Punkt bringt: "Man muss schon ziemlich gaga sein, um hier mitzumachen."

Vor 27 Jahren war die Friseurin gaga genug. Seitdem ist sie, gemeinsam mit ihrer Kollegin Christiane Krampe, in der Maske im Obergeschoss des Bürgersaals dafür zuständig, dass aus manchen Or-pheumsbrüdern schöne, beängstigend großbrüstige Frauen werden (denn auf der Bühne stehen traditionell nur die Orpheumsbrüder; eine Testphase mit Frauen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg endete abrupt mit der Rückkehr zur männlichen Tradition, deren einzige Weiblichkeit grammatikalischer Natur ist). Und Marga Fiedler ist dafür zuständig, dass vor jedem Auftritt die richtige Perücke auf dem richtigen Kopf sitzt. Jeder der Schauspieler und Sänger hat verschiedene Rollen, Marcus Büschges beispielsweise fünf. Da kann man schon mal durcheinander kommen. "Ich lege mir meine Kleidung der Reihenfolge nach aus", verrät der Apotheker, der seit 35 Jahren auf der Orpheumsbühne steht und heute Abend unter anderem als Trude Herr, Adele und rassige spanische Pflegerin reüssieren soll. Fiedler sorgt dafür, dass das Make-up hält. Und dass den Akteuren die Nerven nicht durchgehen. "Ich habe was vergessen", murmelt ein Mann mit großem BH selbstvergessen, während er sich im Spiegel beim Geschminktwerden zuschaut. "Ja?!", fragt Christiane Krampe. "Was hast Du vergessen?" - "Das habe ich ja vergessen!", sagt der Mann empört und muss dann lachen. Lachen kann ungemein beruhigen.

Eine Etage tiefer ist derweil klar, dass der Präsident des Orpheums wegmuss. Günther Kamp steht im Weg, der für einen an einem Seil baumelnden Weihnachtsbaum reserviert ist und der in wenigen Augenblicken an seinen angestammten Platz auf der Bühne gehört. Erst saust der Präsident, dann der Weihnachtsbaum. Dabei hatte es Kamp nur gut gemeint - und mit einem Techniker über die Temperatur im Saal gesprochen. Die ist nämlich zu hoch. Die Rolltore sind schon geöffnet, trotzdem klettert das Thermometer mit jedem Besucher.

Drei Stunden später: Große Pause. Die Besucher sind begeistert, die Akteure deutlich gelassener als zu Beginn. Spielen macht hungrig. Hinter der Bühne ist ein Büffet aufgebaut. Es gibt Grünkohl. In einer langen Reihe ziehen die Akteure am Büffet vorbei. Auf dem Tisch stehen Gläser mit Gurken, Gläser mit Silberzwiebeln, Gläser mit Eierlikör, Gläser mit Cola, Gläser mit Bier, eine Kanne Kaffee. Die Stimmung ist heiter. Es ist der letzte Abend, für den alle seit September dreimal pro Woche geprobt haben, in der letzten Phase sogar täglich. Es ist der Abend, an dem die Partner im Publikum sitzen. Und der Abend, an dem traditionell die Crew ein bisschen Schabernack treibt.

Als der Pausen-Gong den Beginn des zweiten Teils verkündet, hat es der Grünkohl irgendwie vom Büffet in die Requisite geschafft, genauer: auf das Frühstücksbrötchen, das Peter Hören alias Nancy Schlüpper laut Drehbuch verschlingen soll. Hören beißt rein und verzieht keine Miene. Das ist wahre Schauspielkunst! Martin Röse

(RP)
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