Kreis Viersen "Jugendhilfe hat einen Schutzauftrag"

Kreis Viersen · Warum bringen Jugendämter Kinder im Ausland unter? Die Frage bewegte in den vergangenen Tagen viele Menschen. Vertreter der Arbeitsgemeinschaft katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe in der Diözese Aachen erklären, warum eine Betreuung im Ausland sinnvoll sein kann.

Ein Ehepaar lernt ein Kind kennen, das in einem Kinderheim am Niederrhein lebt. Vier Jahre ist das her. Die Eheleute haben selbst zwei erwachsene Kinder, verbringen viel Zeit mit dem Jungen, machen Ausflüge mit ihm. Sie freuen sich, dass er aufs Gymnasium gehen soll. Umso weniger können sie verstehen, dass der Junge im Herbst 2014 zu einem 64-jährigen Betreuer nach Ungarn gebracht wird. Noch weniger können sie verstehen, was da passiert ist, als sie den Jungen in Ungarn besuchen: Der Hof sei baufällig, der Betreuer spreche kaum Deutsch. Der Junge besuche keine Schule, habe nur ein paar Stunden Unterricht pro Woche. Betreut wird der Junge durch einen Mitarbeiter einer Bochumer Jugendhilfeeinrichtung, im Auftrag des Jugendamts der Stadt Dorsten. Das ARD-Magazin "Monitor" berichtete vor einigen Tagen darüber.

Dazu hat inzwischen die Stadt Dorsten Stellung genommen. Das Jugendamt habe vier Monate nach einer geeigneten Betreuung gesucht und sieben Absagen für die Unterbringung im Inland erhalten, erklärt die Stadt Dorsten auf ihrer Internetseite. Die Unterbringung des Kindes in Ungarn entspreche nach Leistungsbeschreibung und Angebot des Trägers den Anforderungen und Empfehlungen der LVR-Landesklinik, die den Jungen behandelte. Der Vormund habe das Kind besucht, es fühle sich dort wohl, und nach derzeitiger Einschätzung der Betreuer und der behandelnden deutschen Ärzte solle die Maßnahme noch mindestens ein halbes Jahr fortgesetzt werden, da sie "deutliche positive Entwicklungen" zeige. Ein Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes der Stadt Dorsten, der bislang nicht mit dem Fall betraut war, werde den Jungen besuchen.

Zu dem Fall will sich der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe (AGkE) in der Diözese Aachen nicht äußern, man wisse zu wenig darüber. Doch die Jugendhilfeeinrichtungen sehen sich nun auch der Kritik ausgesetzt. Viele Menschen fragen sich: Warum geben deutsche Jugendämter Kinder zur Betreuung ins Ausland? Gibt es bei uns keine geeigneten Hilfen?

Doch, meistens jedenfalls. So lautet die Antwort. Denn die meisten Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben können, werden in Jugendhilfeeinrichtungen im Inland untergebracht. Oft sind sie auch gar nicht weit weg von zu Hause: Weil man möchte, dass die Kinder irgendwann wieder bei ihren Eltern leben können und sie den Kontakt zueinander nicht verlieren, werden die Kinder meist auch in Einrichtungen in der Nähe des Elternhauses untergebracht. 80 Prozent der Kinder im St. Annenhof in Kempen, sagt Leiter Herbert Knops, stammten aus der Umgebung, aus dem Kreis Viersen oder aus Krefeld. "Die regionale Unterbringung ist das wichtigste", sagt Knops, "damit sich Eltern und Kinder besuchen können".

Knops ist Vorsitzender der AGkE. Er spricht aus der Praxis: "Alle Kinder, die bei uns leben, kommen über die Jugendämter zu uns. Dem gehen viele Gespräche voraus. Es gibt in der Regel ganz viele Erziehungshilfen, bevor man sich für die stationäre Unterbringung entscheidet." Will heißen: Bevor ein Kind ins Kinderheim kommt, versuchen Jugendämter und Einrichtungen, den Eltern und Kindern zu helfen, so dass sie miteinander zurecht kommen. "Es ist das Ziel, dass Kinder dort leben, wo sie geboren wurden, also bei ihren Eltern", sagt Dagmar Hardt-Zumdick, Geschäftsführerin der AGkE: "Man versucht so lange wie möglich, das System Familie zu stützen."

Die Unterbringung im Kinderheim wird dann gewählt, wenn es anders nicht mehr geht. Wenn Eltern und Kinder beispielsweise Abstand voneinander brauchen, weil die Lage daheim immer wieder eskaliert. Wenn Kinder vernachlässigt, verletzt oder sexuell missbraucht werden. Wenn ihre Eltern krank sind oder so große eigene Probleme haben, dass sie sich nicht um ihr Kind kümmern können. Manchmal bitten Eltern darum, dass das Kind untergebracht wird, manchmal entscheidet das Jugendamt, das Kind aus der Familie zu nehmen.

Meist leben die Kinder und Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen in Gruppen oder einer Art Familienverbund zusammen, andere werden bei Pflegeeltern untergebracht. Es gibt viele verschiedene Modelle. Doch nicht immer klappt das Zusammenleben in der Gruppe, berichten die Fachleute. Es kann sein, dass ein Kind, das in eine solche Einrichtung kommt, bildlich gesprochen einen schweren Rucksack mit sich trägt - beladen mit der Erfahrung von Vernachlässigung oder Gewalt, traumatisiert, bindungs- und beziehungsunfähig. Wie sich das äußert, hängt vom Kind ab.

Es kann sein, dass es sich selbst verletzt, es kann sein, dass es andere verletzt. Dass es straffällig wird oder suizidgefährdet ist. Es kann sein, dass das Zusammenleben für das Kind und für die anderen Kinder in der Gruppe gefährlich wird. "Wir überlegen dann, welche Einrichtung die richtige ist für das Kind", sagt Knops. In Absprache mit dem Jugendamt, den Eltern oder dem Vormund, Ärzten und Pädagogen könne es sein, dass die Entscheidung so ausfällt, das Kind aus der Gruppe herauszunehmen.

"Wir haben als Jugendhilfe einen Schutzauftrag", sagt Guido Royé, Leiter der Jugendhilfeeinrichtung Schloss Dilborn in Brüggen und Vorstandsmitglied in der AGkE. Man könne zum Beispiel nicht zulassen, dass ein Zwölfjähriger auf der Straße lebe und straffällig werde. Da müsse man überlegen, welche Unterbringung geeignet sei. Und es könne sein, dass man entscheide, das Kind individualpädagogisch betreuen zu lassen, also in einer 1:1-Betreuung. Wenn man verhindern könne, dass ein Jugendlicher erst über Jahre hinweg in der Jugendpsychiatrie sei und später im Jugendarrest, sei die individualpädagogische Betreuung gut investiertes Geld, sagt Dagmar Hardt-Zumdick. Immer wieder heiße es, die Betreuung sei zu teuer, aber: Kinder seien heute ein rares Gut. Da dürfe man nicht nur auf die Kosten gucken.

2282 junge Menschen erhielten im Jahr 2013 in NRW eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach Paragraf 35 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Das geht aus dem HzE-Bericht 2015 (Hilfen zur Erziehung) der Landesjugendämter Westfalen und Rheinland hervor. Laut Gesetz soll die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung Jugendlichen "gewährt werden, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen. Die Hilfe ist in der Regel auf längere Zeit angelegt und soll den individuellen Bedürfnissen des Jugendlichen Rechnung tragen". Meist findet die 1:1-Betreuung im Inland statt, aber: "Unter fachlicher Bewertung aller Einzelheiten kann es sein, dass die Unterbringung im Ausland angezeigt ist", sagt Royé.

Die wird über Träger angeboten, mit denen Jugendämter und Jugendhilfeeinrichtungen in Kontakt sind. Nicht jeder Träger biete alles an, und mitunter schicke auch die Einrichtung, in der das Kind lebt, einen Erzieher als 1:1-Betreuer mit dem Kind los - in Dilborn zum Beispiel hat man gute Erfahrungen mit dem gemeinsamen Zurücklegen des Jakobsweges gemacht.

"Es geht immer darum, dass das Kind lernt, sich auf einen anderen einzulassen, sich auch auf sich selbst einzulassen", sagt Dagmar Hardt-Zumdick. Das Kind lerne viel dadurch, dass es in einem ungewohnten Umfeld zurechtkommen müsse - etwas, was viele Familien wünschten, deren Kind ein Auslandsjahr oder ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviere.

Aber: Man muss wissen, wie der Träger arbeitet, regelmäßig in Erfahrung bringen, wie es dem Kind geht, und letztlich prüfen, ob die Maßnahme die richtige ist und die Hilfe ankommt. Es gebe viele Regelungen, und man wisse, wer in einem solchen Prozess an welcher Stelle welche Verantwortung trage, sagt Royé, doch da könne auch die Jugendhilfe vielleicht noch etwas verbessern. Man brauche "ein abgestimmtes, transparentes Konstrukt der Überprüfung durch die inländischen Aufsichtsbehörden", so Royé, "und es ist gut, wenn man sich damit jetzt noch mal beschäftigt". Knops sieht das ebenso: "Wir würden eine stärkere Überprüfung und größere Kontrolle eindeutig befürworten." Die Kontrolle müsse nicht nur Jugendhilfeeinrichtungen und Träger in der Jugendhilfe, sondern auch Jugendämter umfassen.

(RP)
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