Kreis Viersen Seniorin droht die Zwangsräumung

Kreis Viersen · Weil es rechnerisch noch einen Restbetrag ihres Vermögens geben soll, verweigert der Kreis Viersen einer unter Demenz und Parkinson leidenden Frau Hilfe. Ihre Schulden bei der Pflegeeinrichtung wachsen monatlich

Ute und Rainer Wilmsen führen gemeinsam die private Pflegeeinrichtung Haus Boeckelt.

Ute und Rainer Wilmsen führen gemeinsam die private Pflegeeinrichtung Haus Boeckelt.

Foto: haus Boeckelt

Agnes D. (Name geändert) lebt in ihrer eigenen Welt. Für die 85-Jährige ist ein geregelter Tagesablauf extrem wichtig. Ihre Pfleger im Gelderner Pflegeheim Haus Boeckelt wissen, wie wichtig auch kleine Details für die unter Demenz und Parkinson leidende Dame sind, die seit 2006 in dem Haus wohnt. Auf Grund einer extremen emotionalen Instabilität kann schon eine kleine Änderung in der geregelten Tagesstruktur sie aus der Bahn werfen. Welches Drama sich seit Jahren um die Finanzierung ihres Seniorenheimaufenthalts abspielt, ahnte die Frau in ihrem Zimmer nicht im Geringsten.

Dabei füllt die Korrespondenz von Haus Boeckelt, dem Sozialamt des Kreises Viersen und diverser Anwälte mittlerweile Aktenordner. Worum geht es im Kern? Für Agnes D. musste zunächst das Vermögen, das aus dem Verkauf ihres Hauses entstand, aufgebraucht werden, bevor ihr Hilfe aus staatlichen Kassen zustand. Ihre Tochter wickelte das zunächst korrekt ab. Als jedoch kein Geld mehr da war und damit der Antrag auf Sozialhilfe gestellt werden musste, errechnete das für die aus Hinsbeck stammende Frau zuständige Sozialamt des Kreises Viersen, dass noch ein Betrag von gut 23.000 Euro vorhanden sein musste. Der längst nicht mehr geschäftsfähigen Frau stand das Geld jedoch nicht zur Verfügung, von der Tochter, die mittlerweile auch nicht mehr Betreuerin ihrer Mutter ist, gab es keine Antwort. Seit September 2014 fehlen monatlich 1028 Euro, um die Kosten für sie zu decken.

Obwohl damit ihre Schulden längst den Betrag des angeblichen Restvermögens überschreiten, bleibt der Kreis Viersen bei seiner ablehnenden Haltung. Rainer Wilmsen, Geschäftsführer der Pflegeeinrichtung, verzweifelt an der Bürokratie. "Wir müssen jeden Monat das Gehalt unserer Mitarbeiter bezahlen. Mehrere Fälle, bei denen es so hohe Außenstände gibt, könnten wir wirtschaftlich nicht verkraften". Der einzige Weg, der ihm nach juristischer Einschätzung übrigbleibt, lässt ihn jedoch erschaudern. Er soll Agnes D. kündigen und die Zwangsräumung beantragen. Steht die Dame dann auf der Straße, muss sich das örtliche Ordnungsamt um sie kümmern. Hat sie Glück, geht es zurück nach Haus Boeckelt oder in ein vergleichbares Haus, die Unterbringung kann jedoch in irgendeiner anderen Form erfolgen, ohne dass gesichert ist, dass man den besonderen Anforderungen der Erkrankung gerecht wird. Wilmsen: "Allein die Aufregung einer Räumung kann man ihr doch nicht antun wollen." So zögert er den Schritt immer weiter hinaus, auch wenn er befürchtet, dass es am Ende keine andere Lösung geben könnte. Wilmsen: "Außer uns scheint sich keiner für ihr Schicksal zu interessieren." Sie sei zweifellos Sozialhilfe-berechtigt. "Soll sie unter einer Brücke schlafen?". Skandalös sei das völlige Desinteresse des Sozialamtes. "Dort spielt man eindeutig auf Zeit. Man verlässt sich darauf, dass die Pflegeeinrichtungen es in der Regel scheuen, einen Bewohner auf die Straße zu setzen. Wir wollen das natürlich nicht tun, weil sie dann sicher psychischen und physischen Schaden nimmt - in welcher Form und Schwere auch immer."

Für den Kreis Viersen kann Pressesprecher Markus Wöhrl aus rechtlichen Gründen nicht zum konkreten Fall Stellung beziehen. Es sei aber grundsätzlich möglich, dass das Vermögen neu bewertet wird, wenn ein neuer Sachverhalt eintritt. Wöhrl: "Probleme entstehen aber dann, wenn die Vermögens- und Einkommenslage nicht eindeutig und glaubhaft geklärt werden können. Eine unklare Vermögenslage steht dann der Gewährung von Sozialhilfe entgegen."

Auf Nachfrage unserer Redaktion zur Rolle des Kreises zwischen der Verantwortung für ältere Mitbürger ohne Angehörige und seiner Aufgabe, den Haushalt nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, sagt er: "Hier ist entscheidend, welche Rolle der Kreis nach dem Gesetz hat. Sie ist eindeutig: Der Kreis handelt auf der Grundlage der Sozialgesetzgebung. Jeder Einzelfall wird gewissenhaft geprüft und bewertet. Die Haushaltslage darf in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen und so handeln auch unsere Mitarbeiter aus voller Überzeugung." Auch wenn die Kritik im konkreten Fall besonders den Kreis Viersen trifft, sieht Wilmsen eine allgemeine Entwicklung. "Die Anträge auf Sozialhilfe werden auch in unserem Kreis sehr zeitverzögert bearbeitet. Sechs bis acht Monate Bearbeitungszeit sind keine Seltenheit. Angeblich gibt es Personalengpässe. Wenn wir dagegen zu wenig qualifiziertes Fachpersonal vorhalten würden, stünde die Heimaufsicht unverzüglich auf der Matte und würde uns mit Konsequenzen drohen."

Dem widerspricht Markus Wöhrl: "Wenn die Unterlagen vollständig sind, dann dauert die Bearbeitung etwa drei Wochen. Verzögerungen treten auf, wenn Angaben oder Belege fehlen. Um das zu vermeiden, bieten die Mitarbeiter des Sozialamtes Beratungsgespräche an, die aber nicht von allen Antragstellern genutzt werden." Die personelle Ausstattung des Sozialamtes sei ausreichend. Das zeige auch die zügige Bearbeitungszeit der Anträge.

Eine Aussage, bei der Rainer Wilmsen fast schon verzweifelt den Kopf schüttelt. "Wir haben bei Kollegen im Kreis Viersen nachgefragt. Die Anträge werden selten vor Ablauf eines Jahres beschieden. Die Dame hat uns hinsichtlich unserer Wartezeiten im Kreis Kleve von sechs bis neun Monaten schon fast beneidet."

(RP)
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