Viersen Stadtrat wird im Netz zur Schrumpfsitzung

Viersen · Am Donnerstag vergangener Woche wurde erstmals eine Sitzung des Stadtrats live im Internet übertragen. Das ist das Resultat eines einstimmigen politischen Beschlusses, der mit der besseren Teilhabe der Bürger an politischen Prozessen begründet wurde.

Für die ersten vier Ratssitzungen 2017 wird demnach das "Rats-TV" ausgetestet, danach wird analysiert, ob es permanent als sinnvoll zu sehen ist. Zum Probelauf gehört auch das anschließende Bereitstellen der Videoaufzeichnung im Internet - ähnlich einer Mediathek. Aber: "Es findet kein Herausschneiden von Szenen, weder live noch in der Aufzeichnung, statt" - so hatten CDU, SPD, FDP, Grüne, Linke und PiPa-Ratsgruppe in ihrem fraktionsübergreifenden Antrag aus dem Oktober 2016 ihre Ansprüche formuliert.

Die Realität sieht vollkommen anders aus. Seit Mittwoch, ohnehin bereits zwei Tage später als angekündigt und damit fast eine Woche nach der Sitzung, ist die bearbeitete Version im Netz zu sehen - und sie ist derart gekürzt und zerstückelt worden, dass kein einziger Bürger daraus einen Erkenntnisgewinn wird ziehen können.

Von knapp 100 Netto-Minuten Ratssitzung sind im Zusammenschnitt 46 übriggeblieben, also gerade mal die Hälfte. Von 27 Tagesordnungspunkten sind nur neun aufgeführt - ein Drittel. Die komplette Verwaltung hat sich vollständig rausschneiden lassen - neben Oberbürgermeister und Sitzungsleiter Hans Wilhelm Reiners hatten auch die Dezernenten Gregor Bonin, Matthias Engel, Bernd Kuckels und Gert Fischer Redebeiträge. Es fehlen also Begrüßung, Ankündigungen von Tagesordnungspunkten, Abstimmungsergebnisse und jegliche moderierende Elemente seitens des OB, in denen er im Bild zu sehen wäre. Auch die CDU, in Person des Fraktionsvorsitzenden Hans Peter Schlegelmilch, ist im Zusammenschnitt nicht vorhanden. Somit beginnt der Zusammenschnitt mitten in einem Redebeitrag des Grünen Boris Wolkowski, eindeutiger Hauptdarsteller des Videos ist der Linke Torben Schultz.

Nur warum das Ganze? In der Liveübertragung hatte ja auch niemand von seinem Recht gebraucht gemacht, die "Blaue Karte" zu zeigen - dann wäre er oder sie nicht gezeigt worden. Doch offensichtlich hatten gleich mehrere Protagonisten ihre Probleme damit, auch im Nachhinein im Internet abrufbar zu sein. "Vor der Testphase des Rats-TV hat die Verwaltung die Ratsmitglieder und vom Rat anzuhörenden Verwaltungsangehörigen zur Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte schriftlich um entsprechende Einverständniserklärungen gebeten", erläutert Stadtsprecher Dirk Rütten. "Diese freiwilligen und jederzeit widerrufbaren Erklärungen konnten separat für den Livestream und die Veröffentlichung der Aufzeichnung abgegeben werden." Der Zusammenschnitt sei auf Basis eingegangener Erklärungen erstellt worden.

Dabei war die Liveübertragung ein qualitativ gutes Produkt, das immerhin 1500 Zugriffe verzeichnete. Knapp 100 Bürger blieben die ganze Sitzung über am Rechner - die sonst sicher nicht im Rathaus gesessen hätten, zwischen 13 und 15.30 Uhr.

Im Internet entspann sich zum somit zur "Schrumpfsitzung" gewordenen Rats-TV eine lebhafte Debatte. "So macht das dann aber wenig Sinn. Das birgt die Gefahr vieler Missverständnisse, wenn die verbleibenden Wortbeiträge aus dem Zusammenhang gerissen werden", äußerte sich die FDP-Fraktionsvorsitzende Nicole Finger bei Facebook. Ihr Parteifreund Reiner Gutowski veröffentlichte mit Linken-Fraktionschef Torben Schultz eine gemeinsame Erklärung. Seine volle Wirkung, um Entscheidungsprozesse transparent zu machen, könne das Rats-TV auf diese Weise nicht entfalten, es würden falsche Zeichen ausgesendet: "Wer nicht live zur Ratssitzung kommen oder einschalten kann, hat sein Recht auf ausgiebige Informationen verwirkt." Gutowski und Schultz appellierten an die Betroffenen, die Erlaubnis zum Speichern zu erteilen.

(tler)
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