Toter Junge aus Dülken Lucas Familie nahm Hilfe vom Jugendamt an

Viersen/Düsseldorf · Die Stadt Viersen bestätigt, dass das Jugendamt die Familie des getöteten Fünfjährigen betreut hat. Wie intensiv diese Hilfe aussah, bleibt allerdings unklar. Experten sagen: Die Arbeit mit Familien sei immer eine Gratwanderung.

Kind stirbt im Oktober 2016 - Polizei durchsucht Wohnung in Viersen
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Foto: Busch

Die Menschen im Viersener Stadtteil Dülken trauern. Auch gestern wieder wurden an einem Mehrfamilienhaus Blumen abgelegt und Kerzen entzündet. Dort hatte Luca mit seiner Mutter (24) gewohnt. Der Fünfjährige war am Samstag gestorben. Der 26-jährige Lebensgefährte der Mutter soll das Kind gewürgt und so schwer verletzt haben, dass es an inneren Verletzungen im Kopf- und Bauchbereich starb.

"Der Tatverdächtige sitzt weiter in Untersuchungshaft", sagte eine Sprecherin der Polizei. Den Ermittlern der 20-köpfigen Mordkommission zufolge gebe es noch viele offene Fragen. So müsse unter anderem die Rolle der Mutter bei vorangegangenen Misshandlungen des Jungen näher beleuchtet werden. Deshalb werde weiter gegen sie ermittelt.

Luca vertraute sich Dritten an

Denn Luca ist vorher mehrfach körperlich misshandelt worden — er hat sich laut Polizei auch Dritten gegenüber anvertraut und den Lebensgefährten der Mutter benannt. Im Mai soll der Junge deshalb bereits in Obhut des Jugendamtes genommen, später aber wieder in die Familie zurückgebracht worden sein. Seine Halbschwester wurde am Montag aus der Familie genommen. Viele fragen sich: Wäre der Tod des Fünfjährigen verhindert worden, hätte das Jugendamt anders agiert?

Zu seinem Vorgehen äußert sich das Jugendamt Viersen nicht. Frank Schliffke, Sprecher der Stadt, bestätigt lediglich, dass der Fall des Fünfjährigen "seit mehreren Monaten nach Hinweisen aus der Bürgerschaft und der Kindertagesstätte bekannt ist". Das Jugendamt sei unverzüglich tätig geworden. Die Mitarbeiter hätten "Hilfen zur Erziehung" angeboten; diese seien auch angenommen worden.

Dennoch ist Luca tot. Wie intensiv die Familie betreut wurde, ist unklar. Auch Jugendämter in anderen Städten verfolgen den Fall. Werde ein Kind von Angehörigen getötet, stellt sich Claus Bürgers, Leiter der Behörde in Erkelenz, jedes Mal die Frage: Ist unser System verbesserungswürdig? Die Arbeit des Jugendamts sei stets eine Gratwanderung. "In der Wahrnehmung der Menschen kommt es immer zu früh oder zu spät", sagt er. Aus seiner fast 40-jährigen Erfahrung heraus weiß er aber, dass auch eine gute Betreuung durch das Jugendamt nicht 100-prozentigen Schutz biete. Die Herausnahme eines Kindes aus einer Familie sei die letzte Konsequenz, denn es habe auch zu schlechten Eltern eine wichtige Beziehung. Wird ein Kind aus der Familie genommen und stimmen die Eltern dem nicht zu, können sie das Familiengericht einschalten. Kinderschützer kritisieren, dass Kinder zu häufig und zu lange in Familien bleiben.

"Auch uns hat der Fall Luca erschüttert"

Auch Bürgers' Eindruck ist, dass die Gerichte in den vergangenen Jahren eher dazu tendiert haben, die Elternrechte zu wahren. Dass die Mutter — wie in Lucas Fall — anscheinend zu wenig getan hat, ihr Kind zu schützen, komme häufig vor. "Da wird vertraut, verziehen und ein gewalttätiger Mann wieder in die Wohnung gelassen — manche Frauen sind sehr wankelmütig in ihrer Schutzfunktion als Mutter", betont Bürgers.

Bei Misshandlung ist die Gesellschaft sensibilisierter, die Zahl der Hinweise auf Kindeswohlgefährdung ist gestiegen. "Es ist nicht auszuschließen, dass es in einzelnen Jugendämtern hohe Überlastungen gibt", sagt Eva Lingen, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes in NRW. "Das kann auch mit sozialen Strukturen zusammenhängen und ist von Kommune zu Kommune unterschiedlich." Wie viele Sachbearbeiter eine Kommune für diese Tätigkeit zur Verfügung stehen habe, hänge auch mit der Größe der jeweiligen Stadt zusammen.

In Viersen hatte das Jugendamt allein bis September dieses Jahres 126 Inobhutnahmen, 2009 waren es noch 90 Fälle. Dazu kommen vorläufige Inobhutnahmen von unbegleiteten Flüchtlingen. Seit März 2009 sind drei neue Stellen eingerichtet worden, sagt der Erste Beigeordnete Paul Schrömbges. Im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) gebe es 14 Vollzeitstellen und je eine Stelle für Koordination, Amtsvormundschaften und Abteilungsleitung. Bei Hinweisen zur Kindeswohlgefährdung seien Mitarbeiter verpflichtet, unmittelbar tätig zu werden. Eine Fachkraft des ASD müsste informiert werden, ebenso Vorgesetzte.

Sondersitzung des Jugendhilfeausschusses

"Auch uns hat der Fall Luca erschüttert", sagt NRW-Familienministerin Christina Kampmann (SPD). Die Aufarbeitung obliege allerdings den zuständigen Behörden. Viersens Bürgermeisterin Sabine Anemüller (SPD) wollte sich weder zu der Tat noch zu Vorwürfen an ihr Jugendamt äußern. "Es ist ein laufendes Verfahren. Wir müssen die Ergebnisse der Untersuchungen abwarten."

Für die Viersener Grünen ist der Fall Luca ein Alarmsignal: "Von der Verwaltung erwarte ich Aufklärung, ob und wie das Viersener Jugendamt mit der Familie betraut war", sagt Martina Maaßen. Sie hat eine Sondersitzung des Jugendhilfeausschusses beantragt.

(RP)
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