Viersen Wem das Leben aus den Händen gleitet

Viersen · Demenzkranke Menschen im Frühstadium leiden nicht nur an Vergesslichkeit, sondern sie können ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen. Ein Nettetaler erzählt, wie die Krankheit seiner Frau ihr gemeinsames Leben verändert hat.

Menschen mit einer Demenzerkrankung verlaufen sich leicht. Eine Adresse am Schlüsselbund kann ihnen helfen, den Weg nach Hause zu finden.

Menschen mit einer Demenzerkrankung verlaufen sich leicht. Eine Adresse am Schlüsselbund kann ihnen helfen, den Weg nach Hause zu finden.

Foto: Franz-Heinrich Busch

Reisen, schöne Radtouren am Niederrhein - so hatte sich Wolfgang P.* aus Nettetal den Ruhestand vorgestellt. Die Realität sieht anders aus: Arztbesuche, Weinkrämpfe, Hubschrauber-Fahndung nach einem Einkauf im Supermarkt und ein Suizidversuch. Wolfgang P.s Frau leidet an einer leichten Form der Demenz, die mit einer Depression einhergeht. In unserer Zeitung erzählt der 75-Jährige vom Leben mit einer demenzkranken Partnerin - von ersten Anzeichen, Ärzte-Marathon und Zukunftsängsten.

Am Anfang waren es Kleinigkeiten, die dem Rentner an seiner Ehefrau Renate* auffielen. "Meine Frau wurde vergesslich. Sie ließ das Licht brennen, oder sie drehte den Wasserhahn nicht zu. Manchmal lief die ganze Nacht das Wasser im Bad." Erst ermahnte Wolfgang P. seine Frau, dann kontrollierte er sie, auch wenn sie gereizt reagierte.

"So richtig alarmiert war ich nach unserem Türkei-Urlaub", erzählt der Rentner. Das war vor fünf Jahren. Wolfgang P.s Frau verirrte sich in der Hotelanlage auf dem einfachen Weg vom Zimmer zum Restaurant. "Es dauerte ewig, bis sie aus einer völlig anderen Richtung kam und lachend sagte: ,Ich habe noch eine Runde gedreht.' Da wurde mir klar, dass etwas nicht stimmt", erinnert sich der Nettetaler.

Typisch für den Beginn einer Demenz: Die Betroffenen kaschieren ihre Erinnerungslücken als Versehen oder mit einem Witz. "Viele erleben den Verlust ihres Gedächtnisses in der Frühphase sehr bewusst", sagt Helmut Woerner vom Gerontopsychiatrischen Zentrum der LVR-Klinik. Weitere Missgeschicke von Renate P. kamen das Paar teuer zu stehen.

Mal verlor sie ihre Gleitsichtbrille, mal die Krankenkassenkarte, mal das Portemonnaie mit dem Haushaltsgeld. "Sie wollte sich ihre Vergesslichkeit natürlich nicht eingestehen, bis wir dann mit der ganzen Familie auf sie eingeredet haben. Dann hat sie zugestimmt, zum Neurologen zu gehen", erzählt Wolfgang P.

Der Arzt führte allerlei Tests und Untersuchungen durch - auch "Dem-Tect", ein Früherkennungsverfahren für Demenz. Das Ergebnis war diffus. Es gab keine eindeutigen Hinweise auf Alzheimer. Zunehmend aber entwickelte die Nettetalerin eine Depression. "Ihre Psyche war nicht gut, sie weinte viel", erinnert sich Wolfgang P.

Auch das ist bezeichnend für eine Demenzerkrankung, sagen die Experten: "Der Verlust der Alltagskompetenz nagt am Selbstwertgefühl. Je nach Persönlichkeit werden manche Patienten depressiv oder auch aggressiv", erklärt Woerner.

Das Paar wechselte mehrfach die Ärzte. Unter anderem landete es in einer Psychiatrie, die Renate P. noch mehr verschreckte. Bei einer Liquor-Untersuchungen zur Feststellung von Alzheimer, stellten die Mediziner fest, dass einer von drei Eiweißwerten der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit außerhalb der Norm lag. Das erklärte zumindest die Gedächtnisausfälle.

Den Marathon von Arzt zu Arzt finden Gerontologen wie Woerner ebenfalls typisch: "Eine Diagnose ist oft schwierig, viele Ärzte sind damit überfordert, und die Patienten bleiben mit ihren Problemen allein."

Derweil überschlugen sich in Nettetal die Ereignisse: Die Hoffnung, seine Frau könne wenigstens mit einem Elektrofahrrad auf Tour gehen, zerschlug sich. Renate P. verfuhr sich oder vergaß das Bremsen. Nach zwei Unfällen gab ihr Mann auf. Dann ließ Renate P. eine Herdplatte brennen, Wolfgang P. war aufgebracht, wurde laut. Seine Frau zog sich daraufhin eine Plastiktüte über den Kopf, um sich zu ersticken.

Nach dem Suizidversuch folgten weitere quälende Gespräche. Dann fand das Paar aus Nettetal den Weg zum Gerontopsychiatrischen Zentrum in Viersen. Das war im vergangenen Jahr. Sechs Wochen blieb Renate P. in der Tagesklinik. "Eine gute Zeit", erinnert sich Wolfgang P. Inzwischen ist die Behandlung abgeschlossen, aber ihr Mann geht weiter zur Gruppe für die Angehörigen demenzkranker Menschen.

Erst vor einigen Wochen verschwand die 78-Jährige beim Einkaufen im Supermarkt. Ihr Mann verständigte die Polizei. Nach der erfolglosen Suche wurde ein Hubschrauber eingesetzt, schließlich eine Hundestaffel aus Siegburg angefordert. "Und dann stand sie plötzlich in der Tür, völlig fertig. Sie war von Lobberich aus bis zu den Krickenberger Seen gelaufen.

Das Familienleben ist für Wolfgang P. zu einem Kraft- und Balance-Akt geworden. "Ich fange das auf, aber ich stoße an meine Grenzen. Ich passe auf sie auf, aber sie darf es nicht so merken." Der 75-Jährige weiß, dass die Situation nicht mehr besser werden wird. "Als Nächstes werden wir eine Putzfrau brauchen", sagt er. Doch bis jetzt lehnt seine Frau jegliche Hilfe durch Fremde ab. Wie es weitergehen wird, weiß er nicht. "Ich darf nicht zu intensiv darüber nachdenken", sagt er. *Name geändert

(RP)
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