Viersen Wenn Opfer zu Tätern werden

Viersen · In der LVR-Klinik Süchteln werden aktuell ein Dutzend junge Männer im Maßregelvollzug behandelt. Über diese besondere Form der Behandlung gab's jetzt eine Fachtagung. Im Jahr 2017 soll die Zahl der Plätze verdoppelt werden

 An der Tagung nahmen mehr als 100 Fachleute teil. Darunter Klaus Lüder, Friedrich Lösel, Klaus Elsner, Benjamin Pniewski (v. l. n. r.)

An der Tagung nahmen mehr als 100 Fachleute teil. Darunter Klaus Lüder, Friedrich Lösel, Klaus Elsner, Benjamin Pniewski (v. l. n. r.)

Foto: paka

In der LVR-Klinik Süchteln werden zurzeit zwölf junge Männer zwischen 16 und 21 Jahren behandelt. Die meisten von ihnen haben eine Odyssee durch Heime, Jugendhilfeeinrichtungen und Psychiatrien hinter sich und stammen aus unvollständigen oder zerrütteten Familien. Oft waren sie selbst Opfer von Vernachlässigungen und Misshandlungen, bevor sie zu Tätern wurden und zum Teil schwere Straftaten verübten. Die Diagnosen reichen von Störungen des Sozialverhaltens über Intelligenzminderungen und Persönlichkeitsstörungen bis hin zu Störungen durch Einnahme von Substanzen mit Einfluss auf die Psyche.

"Übergänge in die einzelnen Lebensabschnitte werden beim Maßregelvollzug begleitet. Dies ist ein wesentlicher Vorteil gegenüber dem Jugendstrafvollzug", erklärt Klaus Lüder, Leiter Fachbereich Maßregelvollzug LVR Köln. "Zweck ist es, straffällige, psychisch erkrankte Jugendliche wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Sie haben solch ein Angebot verdient", so Lüder.

Das Thema "Jugendliche Straftäter im Maßregelvollzug" stand jetzt im Fokus einer Fachtagung, die in der Viersener Klinik des Landschaftsverbandes Rheinland stattfand. Die Tagung verstand sich auch als ein Resümee der seit Oktober 2013 bestehenden Forensischen Abteilung II der Viersener LVR-Klinik. Hier sind die jugendlichen Straftäter untergebracht, die aufgrund einer psychischen Erkrankung entweder als nicht oder nur eingeschränkt schuldfähig gelten. In ganz Deutschland gibt es zehn forensische Einrichtungen für jugendliche und heranwachsende Straftäterinnen und Straftäter.

Im Gegensatz zum normalen Strafvollzug gilt beim Maßregelvollzug keine zeitliche Begrenzung, und die Jugendlichen werden nicht nach Ablauf eines bestimmten Strafmaßes entlassen. Dies bedeutet insbesondere in pubertären Phasen einen zusätzlichen problematischen Einschnitt in die Entwicklung und Heranreifung, mit denen alle Jugendlichen ohnehin zu kämpfen haben. Ziel ist die schnelle Wiedereingliederung der jungen Straftäter, die hier als Patienten gesehen werden. Klaus Elsner, Therapeutischer Leiter Jugendforensik LVR-Klinik Viersen, erläutert: "Es hat in der Vergangenheit kein angemessenes Angebot für straffällige junge Menschen mit psychischen Störungen gegeben. Jung und Alt waren gemischt untergebracht. Das ist hier seit drei Jahren anders. Ab 14 Jahren kann man in den Maßregelvollzug und somit in die entsprechende Behandlung kommen", erklärt der Psychologe.

Wichtig sei es, den Erziehungsgedanken zu berücksichtigen sowie persönliche, schulische und berufliche Weiterentwicklung zu forcieren. "Wir haben es mit zum Teil schweren Biografien und psychischen Störungen zu tun. Im Maßregelvollzug ist eine adäquate Förderung möglich, um eine positive Veränderung und Entwicklung bei den jungen Menschen herbeizuführen, ohne den Sicherungsaspekt zu vernachlässigen", betont er.

Die Jugendlichen leben gemeinsam in einer Gruppe. Elsner hält dies für sinnvoll. "Die Gruppendynamik ist notwendig, um Gemeinschaft zu lernen. Auch bei der therapeutischen Arbeit ist die Gruppe wichtig." Man müsse auf homogene Strukturen innerhalb der Gruppe achten, denn eine Gruppendynamik könne sich zwar konstruktiv aber auch destruktiv entwickeln. Die entsprechende Betreuung werde durch geschultes Fachpersonal gewährleistet.

Friedrich Lösel, Professor des Institute of Criminology der Universität Cambridge, referierte über die Wirksamkeit der Behandlung von jungen Straftätern. "Aus meiner Sicht sind mehr derartige Einrichtungen nötig. Der Bedarf ist da. Es sind sehr intensive und belastende Störungen, unter denen die Jugendlichen leiden." Das äußere sich deutlich in der Vorherrschaft der Gewaltdelikte. Die begangenen Straftaten liegen in den Bereichen Brandstiftung, schwerer Raub und räuberischer Erpressung bis hin zu sexuellem Missbrauch von Kindern. Die Jugendlichen hätten ganz andere Entwicklungsschritte zu bewältigen und benötigten eine inhaltlich speziellere Betreuung. So müssten zum Beispiel geregelte Tagesabläufe, Struktur und soziales Miteinander erlernt werden, neben den schulischen Verpflichtungen und einer beruflichen Zukunftsorientierung. Dies alles in Abstimmung mit dem jeweiligen Krankheitsbild.

Auch Referent Benjamin Pniewski vom Nationalen Zentrum für Kriminalprävention Bonn ist der Ansicht, dass in solchen Fällen spezifischer auf die jugendlichen Straftäter eingegangen und die Behandlung individuell abgestimmt werden sollte. Sein Vortrag thematisierte die Wirkungsweise der Jugendforensischen Behandlung und ihre Erfolgsaussichten. "Es gibt bis dato keine empirischen Studien." Die Rückfallquote liege bei 60 Prozent. Dennoch gäbe es Erfolge zu verzeichnen.

Friedrich Lösel stellt die Wichtigkeit des Maßregelvollzugs im Gegensatz zum normalen Strafvollzug auch im Hinblick auf den Opferschutz dar. "Der Maßregelvollzug bietet innovative und wichtige Schritte, um jugendliche Straftäter mit psychischen Störungen zu behandeln und ihnen die stufenweise und betreute Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen. Ein Umstand, der letztlich auch dem Opferschutz dient", so Lösel.

Für 2017 ist eine Erhöhung auf 24 Plätze vorgesehen. Hierfür wird ein Bereich der Klinik ausgebaut. "Wir reagieren damit auf die Steigerung der unter diesen Umständen begangenen Straftaten von Jugendlichen. Die Zahl hat sich seit 1994 mehr als verdoppelt", berichtet Klaus Lüder über die Entwicklung. Waren im Jahr 1994 600 Patientinnen und Patienten im Maßregelvollzug untergebracht, so sind es heute bereits 1500. Bezeichnend ist, dass es sich zumeist um Jungen und männliche Heranwachsende handelt. Doch auch die Zahl der straffälligen Mädchen mit psychischen Störungen steige. "Wir müssen darauf reagieren und weitere Kapazitäten schaffen", so Lüder.

Ziel sei es, arbeitsfähige Netzwerke zu schaffen. Nur in Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe, der allgemeinen Psychiatrie, der Polizei und den Jugendgerichten bestünde die realistische Möglichkeit, möglichst vielen der Patienten Perspektiven für ihren weiteren Lebensweg aufzuzeigen.

(paka)
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