Wermelskirchen Hagen Rether und das schlechte Gewissen des Spießbürgers

Wermelskirchen · Langer Pferdeschwanz, schwarzer Anzug, weißes Hemd mit offenem Kragen, weiße Socken, geputzte Schuhe: Hagen Rether flegelt sich wie ein gelangweilter Vorstandsvorsitzender auf der hohen Bühne in seinem ausladenden, rollbaren Chefsessel vor dem Flügel. Vor sich in niedriger Position das Publikum in der ausverkauften Bogenbinderhalle der Katt. Rether spricht zu seinem Volk.

Dieses Bild entspricht genau dem, was er anprangert: ihr dort oben, wir hier unten. Mal wird der Chefsessel zur Kanzel, mal zum rollenden Leitstand. Die Leute hängen an seinen Lippen, auch wenn sie sie nicht sehen können. Weil er den Flügel putzt. Aalglatt muss alles sein, damit seine Worte Wirkung zeigen. Der Kabarettist macht sich Sorgen. Seit Jahren wird er nicht müde, die Missstände in der Republik und in der ganzen Welt anzuprangern. Alle zusammen - sein Volk, die Kabaretthörigen, weil Besserversteher, die Durchblicker, die es wagen, über die Marotten der Mächtigen zu lachen - müssten als Masse agieren und den Aufstand (er)proben.

Pastor Rether sieht das Heil nur in der Änderung der Lebensweise. Würden etwa alle nur noch Fair-Trade-Produkte kaufen und vegan leben, dann wäre schon viel gewonnen. Die arbeitslos gewordenen Metzger könnte man sofort (hoffentlich nach Umschulung) in die Altenpflege stecken, dort würden sie dringend gebraucht. Mit maximal 30 Mausklicks könne sich jeder die 50 Produkte auflisten, die von den wahren "Ökoterroristen" wie Nestlé und Monsanto zum Schaden von Ländern und Leuten produziert werden. Um diese Produkte sollte man mit dem Einkaufswagen einen großen Bogen machen.

Rether spricht das Undenkbare aus und wagt es auch, seinen symbolischen Zeigefinger auf sein Volk zu richten. Er verlangt, dass die Bordellbesucher einen Gesundheits-check machen müssen und nicht die Prostituierten. Und ihn wundert, dass die Übergriffe in Köln auf Frauen in der Silvesternacht "vor dem Dom und nicht drinnen" passiert sind. Natürlich kennt sein Publikum seine Botschaft der drohenden Stunde des Weltuntergangs. Es kracht an allen Ecken in der Welt: ökologisch, sozial, finanziell und überhaupt. Aber mit einer Abart des Masochismus lassen sie sich immer wieder von Hagen Rether abwatschen. Und so wird er zum schlechten Gewissen des Spießbürgers. Sie klatschen, wenn er ihnen den eigenen Spiegel der Gier, Verantwortungslosigkeit und mangelnden Empathie vorhält.

Nach vier Stunden Predigt können sie erleichtert nach Hause gehen. Ob sein eindringliches Mahnen etwas genützt hat? Immerhin ist der Flügel jetzt blitzblank.

(bege)
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