Himmel & Erde Der unbarmherzige Gaffer

Wesel · Gaffer, also Schaulustige, die sich am Leid anderer befriedigen und dann unverrichteter Dinge weitergehen, hat es schon zu Zeiten von Jesus gegeben. Das Lukasevangelium erzählt in der bekannten Geschichte vom barmherzigen Samariter das Leid eines Menschen, der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho von Räubern überfallen, misshandelt und ausgeraubt wird. Andere gehen an ihm vorbei, sehen seine Notlage und lassen ihn dennoch dort liegen. Auch scheinbar fromme Zeitgenossen sind dabei, ein Priester und ein Levit. Erst ein Mensch aus Samaria erbarmt sich des Überfallenen und hilft ihm.

Himmel & Erde: Der unbarmherzige Gaffer
Foto: Malz, Ekkehart (ema)

Der schreckliche Verkehrsunfall vor zwei Wochen, bei dem in Wesel eine Mutter mit ihren beiden kleinen Kindern lebensgefährlich verletzt wurde, hat die Diskussion um das Gaffen noch einmal neu angeheizt. Anstatt zu helfen oder wenigstens die Rettungsmaßnahmen von Notärzten und Polizei nicht zu behindern, haben Schaulustige eine Art der Verrohung an den Tag gelegt, die sprachlos macht und schockiert.

Was empfinden Menschen, die sich am Leid anderer auf eine geradezu perverse Weise ergötzen und befriedigen? Dass einige Gaffer das furchtbare Geschehen sogar mit ihren Handys aufgenommen haben, ist unfassbar. Die Berichte, die nicht nur von diesem Unfall in Wesel, sondern von vielen Katastrophen in Deutschland und weltweit dokumentiert sind, zeigen, dass es eine steigende Tendenz des Gaffens gibt. Das Phänomen eines Katastrophenvoyeurismus betrifft viele Länder und alle sozialen Schichten. Die krankhafte Lust, die schrecklichen Bilder und Eindrücke auch mit dem eigenen Handy aufzunehmen, ist allerdings erst in den letzten Jahren festzustellen.

Klar muss sein: Gaffen ist kein Kavaliersdelikt. Gaffen darf nicht nur als unterlassene Hilfeleistung gewertet werden, sondern muss in Zukunft als Straftat gelten. Wer gafft und fotografiert, statt zu helfen, muss vom Staat und von der Gesellschaft empfindlich sanktioniert werden. Kinder und Jugendliche müssen zudem zu Hause und in der Schule ein neues Koordinatensystem lernen, wie man sich in einer solchen Ausnahmesituation zu verhalten hat.

Die Gaffer von Wesel und von den anderen Katastrophenorten dieser Welt müssen begreifen, dass sie völlig außerhalb des Wertesystems einer zivilisierten Bürgergesellschaft stehen. Im Gegensatz zu den vielen engagierten Feuerwehrleuten, Notärzten, Polizeibeamten und freiwilligen Helferinnen und Helfern brauchen wir diese Menschen nicht.

THOMAS BRÖDENFELD

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort