Hamminkeln Dingden sang anders als der Papst

Hamminkeln · In der Kunstsprechstunde im Ringenberger Schloss ist ein sensationeller Schatz aufgetaucht. Auf dem Dachboden von Wilhelm und Hildegard Kösters in Dingden lag ein Kirchenbuch von 1536 – eine kulturhistorische Rarität. Die erlaubt einen Blick in die Liturgie des Mittelalters.

Im frühen 16. Jahrhundert wurden Bücher als immense Kostbarkeit geschätzt. Gutenberg hatte einer in äußerst bewegten Zeit den Buchdruck gerade erst erfunden. Wer damals einen Buchdeckel aufschlug, hielt eine epochale Errungenschaft in Händen. So ließ der Bischof von Münster Anno Domini 1536 in ein „Graduale Romanum”, das er beim Drucker Hiero Alopecius in Auftrag gegeben hatte, mit einer gestrengen Handlungsanweisung ausstatten: „Der du dieses Buch öffnest und wälzest, sollst saubere Hände haben und sollst die Blätter sanft wenden.” Eine feuchte Aussprache sollten Kantoren tunlichst auch nicht haben. Ein Exemplar dieses großformatigen Gesangbuches ist jetzt überraschend in Dingden aufgetaucht.

Beim Aufräumen gefunden

Wie es scheint, sind die Dingdener pfleglich mit dem in Schweinsleder gebundenen Folianten umgegangen, der sich trotz seines biblischen Alters von fast einem halben Jahrtausend in erstaunlich gutem Zustand befindet. Vergessen schlummerte die musik- und liturgiegeschichtliche Kostbarkeit auf dem Dachboden der Eheleute Kösters Jahrzehnte dahin, ehe sein unschätzbarer Wert durch eine spontane Aufräumaktion von Hildegard Kösters neu entdeckt wurde.

Eigentlich wollten die Kösters mit einem alten Gemälde in die Kunstsprechstunde ins Ringenberger Schloss. Sie nahmen das lateinische Kirchenbuch mit. Kunsthistorikerin Dr. Silke Köhn sah’ die Jahreszahl und dachte: „Noten, – und das so früh!” Musikwissenschaftler Wolfgang Kostujak, der im Schloss lebt, bestätigte eine 295 Seiten starke Sensation und informierte seinen Kollegen Prof. Stefan Klöckner von der Folkwanghochschule in Essen, der den Schatz sorgsam in Augenschein nahm. Das Choralwerk erlaubt einen Blick in die Liturgie des Mittelalters. Die Noten sind in gotischer Neumenschrift geschrieben. Das Werk war allerdings nach nur wenigen Jahren überholt.

Das Konzil von Trient (1545 - 1563) erließ nach erbitterten Richtungsstreit eine umfassende Liturgiereform. Als Reaktion auf die politischen und religiösen Umwälzungen der Reformation war die Kurie gezwungen, auf die Lehre Luthers zu reagieren. Das betraf auch die Kirchenmusik, in der das „geschriebene Wort“ der Bibel, das „Scriptura Sola“ jetzt wichtiger wurde als die musikalische Prachtentfaltung mittelalterlicher Melodien. So war das Dingdener Psalm- und Notenwerk nach 1563, streng genommen, für die Messe verboten. Rom war weit weg. Dingdens Katholiken hielten noch lange an der mittelalterlichen Tradition fest.

Es gibt handschriftliche Spuren, die darauf schließen lassen, dass es noch bis ins 19. Jahrhundert verwendet wurde. Dass das historische Juwel bei den Kösters auftauchte, ist keineswegs Zufall. Der Küster als musikalische „Spielmeister“ und Kantor im Dorf hatte das Buch aufzubewahren. So blieb’s über Generationen in der Familie. Wie der Name ahnen lässt, waren die Vorfahren von Wilhelm Kösters (59) allesamt Küster, nachweisbar bis ins 17. Jahrhundert zu Henricus Custodis (lat. Wächter, Behüter). Das Werk wird nun präpariert und geht als Dauerleihgabe in die neue Bibliothek der Folkwanghochschule.

(RP)
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