Niederrhein Ein Blick in Luthers Schreibwerkstatt

Niederrhein · Luthers Bibelübersetzung gilt als wichtiger Anstoß für die Entwicklung des Hochdeutschen. Doch wie kam er zu seiner Sprache? Luther-Experte Jörg Zimmer weiß: Er schulte seinen Stil auch an der Prägnanz deutscher Sprichwörter.

 Jörg Zimmer in der Lutherstube der Wartburg. An der Wand das Gemälde von Lucas Cranach, das Luther während seines Aufenthaltes porträtiert.

Jörg Zimmer in der Lutherstube der Wartburg. An der Wand das Gemälde von Lucas Cranach, das Luther während seines Aufenthaltes porträtiert.

Foto: zimmer

Gute Vorsätze für die Fastenzeit oder ein Neues Jahr hätte Martin Luther vermutlich mit einem müden Lächeln quittiert. Er wusste, dass der alte Mensch mit schlechten Gewohnheiten und bösen Gedanken "jeden Tag ersäuft werden muss". Als Beichtvater sah er zudem, dass der florierende Ablasshandel seiner Zeit verheerende Folgen für das menschliche Miteinander hatte. Im Glauben, die Seele von allen Sündenstrafen freikaufen zu können, traten viele erst richtig auf das Gaspedal ihrer Lüste und Begierden. Vier Jahre bevor Luther seine 95 Thesen gegen den päpstlichen Ablasshandel veröffentlicht und damit einen kulturgeschichtlichen Tsunami auslöst, sitzt er, wie so oft, im Turm des Schwarzen Klosters zu Wittenberg. Volker Leppin, Professor für Kirchengeschichte in Tübingen, weiß, was er da gemacht hat: "Luther hatte sein Lebtag schwerste Verdauungsstörungen und saß sehr oft im Turm, wo die Latrine des Augustinerklosters war."

Dort hat Martin Luther im Frühjahr 1513 nach unzähligen Stunden abgrundtiefer Verzweiflung und Nächten völligen Verlorenseins die entscheidende religiöse Erkenntnis der Reformation: Gerecht wird der Mensch allein durch den Glauben, und der wird ihm geschenkt. Seit seinem Turmerlebnis ist er fest davon überzeugt, dass gute Taten oder Taler im Kasten der Ablasshändler nichts bewirken können.

Als er 1517 damit beginnt, öffentlich gegen den Papst und für dieses neue Verständnis von Gottes Wort zu predigen und zu schreiben, steht er allerdings vor einem großen Problem: "Deutschland hat mancherley Dialectos, Art zu reden, also daß die Leute in 30 Meilen Wegs einander nicht wol können verstehen", sagt er in einer seiner berühmten Tischreden. Oberhalb der heute so genannten Benrather Linie und damit auch hier am Niederrhein sprechen die Menschen überhaupt ganz anders als in den südlicheren Teilen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, sie sprechen Niederdeutsch, also Platt.

Das bedeutet: Luthers Ringen um ein neues Verständnis der Bibel ist von Beginn an auch eine sprachliche Herausforderung. Doch das Schicksal meint es gut mit Martin Luther. In der Sprache der Formel 1 könnte man sagen: Luther ist geographisch in einer Pole-Position, um seinen theologischen und sprachlichen Siegeszug zu beginnen. Er wird 1483 in Eisleben geboren, wo die Menschen, wie seine Eltern auch, Oberdeutsch sprechen. Wenig später zieht er mit seiner Familie in das nur wenige Kilometer entfernte Mansfeld, wo seine Schulfreunde und alle anderen sich auf Niederdeutsch unterhalten. Martin Luther kann also schon sehr früh ein Gefühl für sprachliche und dialektale Varianten entwickeln.

Getarnt als Junker Jörg übersetzt er 1521 auf der Wartburg erstmals das Neue Testament ins Deutsche. Frühere Übersetzungen der Bibel hält Luther für unbrauchbar, weil sie sich zu streng an der lateinischen Übersetzung des Kirchenvaters Hieronymus aus dem 4. Jahrhundert orientieren. Luther will anders übersetzen, näher an der Volkssprache, um die Menschen, die zu 90 Prozent gar nicht lesen können, direkter und inniger mit der guten Botschaft zu erreichen. Als Mönch hat er gute Erfahrungen damit gemacht, die Bibel von der Kanzel herab mündlich zu übersetzen. Schon damals beobachtet er sehr genau, wie die Menschen auf seine Übertragung reagieren und er fängt an, "dem Volks aufs Maul zu schauen".

Bis zu seinem Lebensende ist es sein Hauptgeschäft, die Bibel mit einem Stab von Mitarbeitern der Universität Wittenberg zu übersetzen. In seinem Sendbrief vom Dolmetschen, aus dem auch das Zitat mit dem Maul stammt, schreibt er 1530: "Ich hab mich des geflissen ym dolmetzschen, das ich rein und klar teutsch geben möchte. Und ist uns wol offt begegnet, das wir viertzehen tage, drey, vier wochen haben ein einiges (gemeint ist einziges) wort gesücht und gefragt, habens dennoch zu weilen nicht funden."

Am Ende dieses Zitates setzt Luther ein bekanntes Sprichwort ein: "Es ist gut pflugen, wenn der acker gereinigt ist." Sprichwörter, die in der Volkssprache und über die Dialekt- und Sprachgrenzen hinaus im Volk geläufig sind und überdies wertvolle Erfahrungen speichern, werden ab diesem Zeitpunkt sehr wichtig für seine sprachliche Arbeit. Er schreibt selber einige Hundert davon in ein kleines Oktavheft, das er immer wieder vornimmt, wenn er ein passendes Wort sucht. Zudem bittet er Freunde, die im ganzen Reich verteilt wohnen, ihm regional bekannte Sprichworte und Reime aufzuschreiben und nach Wittenberg zu schicken. Das kleine, handgeschriebene Oktavheft existiert noch und liegt heute in der Bibliothek der Universität von Oxford.

In seiner Bibelübersetzung sowie in seinen Predigten und Schriften finden sich insgesamt 4987 Sprichwörter und Redensarten. Sie helfen Martin Luther dabei, die trockene Verwaltungssprache der sächsischen Kanzlei, die er im aufblühenden Buchdruck zur schriftsprachlichen Grundlage seiner theologischen Öffentlichkeitsarbeit macht, mit Blut und Leben zu füllen. Welche Rolle die literarischen Kleinformen Sprichwort und Redensart für Luthers Siegeszug in die Herzen der Menschen haben, ist bis heute nicht umfassend untersucht.

Jörg Zimmer schreibt seine Doktorarbeit über dieses Thema.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort