Wesel Rechnungen erzählen Stadtgeschichte

Wesel · Die spätmittelalterlichen Rechnungen der Stadtkirche St. Willibrordi geben Aufschluss über die Weseler Gesellschaft jener Zeit. Jetzt wird der dritte Teil (1510-1519) der aufwendigen Transkription im Eigenverlag der Stadt veröffentlicht.

 Transkribierte mittelalterliche Kirchenrechnungen zeigen hier Dr. Martin-Wilhelm Roelen, Dr. Herbert Sowade, Prof. Dr. Wolfgang Deurer und Karl-Heinz Tieben (v.l.).

Transkribierte mittelalterliche Kirchenrechnungen zeigen hier Dr. Martin-Wilhelm Roelen, Dr. Herbert Sowade, Prof. Dr. Wolfgang Deurer und Karl-Heinz Tieben (v.l.).

Foto: Ekkehart Malz

Rund fünf Jahrhunderte ist es her, dass ein Weseler Vikar namens Derick Uppen Dike sich die Zeit nahm, alle Kirchenrechnungen der St.-Willibrordi-Stadtkirche zusammenzufassen. Abertausende Einträge zu Einnahmen, Ausgaben und Stiftungen füllen hunderte Seiten, ihre teils nur millimetergroße Schrift hat der Philologe und Kirchenhistoriker Herbert Sowade jetzt in eine lesbare Form gebracht - und damit der Wissenschaft einen großen Dienst erwiesen.

"Für den Laien ist das nicht interessant", bewertet Sowade, den der Dombauverein im Jahr 1981 mit der Transkription der Kirchenrechnungen beauftragte, seine Arbeit. Vom Jahr 1401 bis 1615 reichen die Handschriften in der sogenannten rhein-maasländischen Schriftsprache, die er in eine wissenschaftlich lesbare Form überführte. Der jetzt erschienene dritte Band umfasst allein die Jahre 1510 bis 1519 - und ist trotzdem dicker als die beiden vorangegangenen Bücher, die insgesamt mehr als 100 Jahre abbilden. "Das liegt daran, dass in diese Zeit der Bau des Doms fällt", erklärt Karl-Heinz Tieben, Vorsitzender des Weseler Dombauvereins.

Unzählige Rechnungen über Stiftungen für diesen und jenen Gebäudeteil dokumentieren den Bau des zwischen 1498 und 1540 errichteten Gotteshauses. Somit ist der neueste Band der "Kirchenrechnungen St. Willibrordi Wesel" nicht nur eine Sammlung spätmittelalterliche "Kassenzettel", sondern auch ein großes Stück der Stadtgeschichte, und damit zumindest für historisch bewanderte Bürger nicht uninteressant.

Denn unter anderem zeigen die Rechnungen, wer sich alles am Dombau beteiligt hat, war doch Willibrordi auch ein Symbol für die Macht des aufstrebenden Bürgerstandes: "Die Bürger suchten nach Protz", erklärt Stadtarchivar Martin-Wilhelm Roelen. Einzelne Familien hätten aus eigener Tasche den Bau ganzer Kirchenteile bezahlt und sich so ein Denkmal für die Ewigkeit gesetzt - und gleich für das Seelenheil mitgesorgt. Nur durch die zahlreichen Bürgerstiftungen ist zu erklären, wie die Kirche ihre heutige Größe erhielt.

Das Buch erscheint im Eigenverlag der Stadt und kostet 30 Euro. "Geschenkt", sagt Roelen, der die Personen- und Ortsnamen im Buch als Index hinzufügte - üblicherweise liegt der Preis für fachwissenschaftliche Bücher im dreistelligen Bereich. Sowade betont, dass der Wert des Buches darin liegt, eine Lücke in der Grundlagenforschung zu schließen.

"Man muss es ja auch lesen können", sagt der 81-Jährige. Denn wie heute schrieben die Menschen auch im 16. Jahrhundert so profane Dinge wie Währungsangaben nicht aus, sondern kürzten ab - und nicht nur die Währungen. So bestand Sowades Arbeit nicht nur im Entziffern der eng geschriebenen spätmittelalterlichen Handschrift, sondern auch im Auflösen der unzähligen Abkürzungen.

Das sachkundige Auge macht in den historischen Rechnungen noch andere Kuriositäten aus: So erklärt Herbert Sowade, dass viele der Einträge - heute unvorstellbar - keine genauen Wertangaben der eingehenden Geldbeträge enthalten. "Jede Stadt hatte ihre eigene Währung. Es gab da Mark, Goldgulden, Denarius, Schilling, Pfennig und unzählige andere Münzen", sagt Herbert Sowade. Diese waren in den Rechnungen zwar stets mit einer Zahlenangabe versehen, einige Einträge endeten aber mit dem Hinweis des Kirchenmeisters, dass der Stadtrat prüfen müsse, wie viel der jeweilige Betrag in Wesel eigentlich wert war.

(bur)
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