Wesel Schrei zur Selbstverteidigung

Wesel · "Schirmdefensive": Kampfsportlehrer Georg Niering (65) erläuterte beim Kontaktkreis Multiple Sklerose, wie sich auch behinderte Menschen effektiv zur Wehr setzen können.

Der Schrei geht durch Mark und Bein: Wenn Kampfsportlehrer Friedebert Georg Niering (65) von der Sportfachschule für Selbstverteidigung Wesel-Duisburg und Inhaber des Meistergrades "10. Dan" brüllt, hat man Sehnsucht nach dem nächsten Mauseloch. Jetzt hatte ihn Heinz Bienen-Scholt (Multiple Sklerose Kontaktkreis) eingeladen. Niering erläuterte, wie behinderte Menschen einen Schrei effektiv zur Gegenwehr einsetzen können. "Wenn jemand vor Ihnen steht, ergreift der die Flucht. Ihnen gibt der Schrei Kraft und Mut." Ein schriller Schrei vom schwachen Geschlecht tue es zur Not auch.

Schrecksekunde auslösen

Nierings Vortrag hieß "Schirmdefensive". Wörtlich zu nehmen! Ein Schirm ist eine gute Abwehr-Waffe. Wer im Rollstuhl fährt, sitzt tief. Ein Stoß in Bauch oder Unterleib des Aggressors kann Wunder wirken. Zu solchen Tipps aus dem Ten-Jitsu-Sport für Menschen über 50 gehört auch die Lama-Methode: Spucken mitten ins Gesicht, verblüfft sekundenlang den Gegner. Zuhörer Johannes Reddant spielte den "Täter" und erlebte – schmerzlos – wo entscheidende Schwachstellen sitzen. Schnelle, schmerzhafte Attacken auf Nasenspitze, Kehlkopf oder den Haarwirbel am Hinterkopf zeigen große Wirkung. Ein kurzer Stock, bequem im Rollstuhl mitzuführen, dient als Schlagstock: "Wenn Sie jemandem damit auf den Kopf schlagen, platzt die Kopfhaut und der geht ins Krankenhaus. Haben Sie keine falsche Scham, Ihr Gegenüber schont Sie auch nicht", so Niering.

Ein Anwachsen der Brutalität beobachtet er täglich, besonders bei der Jugend. In Duisburg fahre inzwischen die Polizei vor Schulen Streife. Mit der Hilfe von Mitbürgern sei es schlecht bestellt: "Die meisten sind feige, dumme Gaffer!" Wer aber bei der Selbstverteidigung übers Ziel hinaus schießt, wird selbst bestraft. "Denken Sie daran, wenn jemand am Boden liegt, fällt das nicht mehr unter den Notwehr-Paragraphen." Noch gibt es keine Kurse für Behinderte. Auch ein Versicherungsproblem, glaubt Niering. Unter den Gästen in der Friedenskirche entbrannte eine lebhafte Diskussion. Monika Faber (59) empfiehlt kein Mitleid. Sie will künftig nie ohne Schirm gehen: "Mir kommt es auf die Schrecksekunde an." Marlene Mölders (61) ist eine Kämpferin. Sie schaffte es als eine der wenigen MS-Patienten, sich vom Rollstuhl zu befreien. Im Notfall traut sie sich Gegenwehr zu.

Anders Ramona Gertzen (49), seit 25 Jahren MS-krank. "Schreien ja", meint sie, "aber einem anderen wehtun? Das könnte ich nicht." Sich wie vor Jahren mitten in der Nacht auf einem Autobahnparkplatz von zwei Polen in die Toilette helfen zu lassen, findet sie heute naiv. Doch ihren Glauben an die Menschen will sie nicht aufgeben. Niering selbst ist schwerstbehindert seit einem Motorradunfall. Er lag mit Trümmerbrüchen 25 Wochen im Krankenhaus.

(RP)
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