Wesel/Alpen Shams großes Glück währte nur kurz

Wesel/Alpen · Vor gut vier Wochen sind Jehad und seine schwangere Frau Ahed aus Damaskus geflohen und in Wesel gelandet. Hier kam Sham zur Welt. Die Eheleute Siemens haben in Alpen die Familie aufgenommen. Doch die Odyssee geht weiter.

 Von links: Iptisam Atallah, Ahed und Jehad mit ihrer Tochter Sham und Margret Siemens

Von links: Iptisam Atallah, Ahed und Jehad mit ihrer Tochter Sham und Margret Siemens

Foto: Fischer, Armin (arfi)

Die tiefschwarzen Äuglein öffnen sich für einen Moment. Um die winzigen Mundwinkel huscht der Hauch eines Lächelns. Dann schläft Sham, geborgen im Arm ihrer jungen Mutter, weiter. Ganz ruhig. Dem erst wenige Wochen alten Säugling fehlt's an nichts. Ein friedliches Bild. Sham ist ein anderer Name für Syrien. Da herrscht Krieg. Shams Eltern sind aus den Trümmern der Hauptstadt Damaskus geflohen, wie Millionen ihrer Landsleute. Sie haben den gleichen lebensgefährlichen Weg gewählt, über die Türkei im Schlauchboot übers Mittelmeer auf die griechische Insel Kos, von dort über Land bis nach Deutschland.

Ein beschwerlicher Weg. Besonders für die hochschwangere Ahed (19). Mutter und Kind haben die ungeheuren Strapazen heil überstanden. Die Geburt des Töchterchens hat die Flüchtlingsfamilie nach Alpen geführt.

Margret und Wolfgang Siemens haben sie in ihrem idyllisch gelegenen Häuschen An den Teichen aufgenommen. "Unser Haus ist von den Bomben zerstört worden", erzählt Jehad (24), ein schlanker, gut aussehender junger Mann. Sein Bein ist dabei verletzt worden. In Damaskus hat er als Friseur gearbeitet. Bis er sich mit seiner schwangeren Frau auf den Weg in die Ungewissheit gemacht hat, "um Frieden zu finden", übersetzt Iptisam Atallah. Sie ist vor 40 Jahren aus Palästina über die USA nach Alpen gekommen, wo ihr Mann als Arzt praktiziert. Jetzt leistet sie bei der Flüchtlingshilfe wertvolle Dienste als Dolmetscherin.

Zwei Wochen hat es gedauert, bis das syrische Paar am Niederrhein gelandet ist und mit 300 anderen Flüchtlingen einen vorläufigen Platz in der Notunterkunft im ehemaligen Verwaltungsgebäude der einst weltläufigen Firma Trapp in Wesel fand. Dort klagte die Syrerin plötzlich über "Bauchschmerzen", erzählt Iptisam Atallah. Das DRK Alpen, das in Wesel half, nahm Kontakt zur Dolmetscherin auf. Sie riet dem werdenden Vater, mit seiner Frau sofort ins Marien-Hospital zu gehen. Ein eindeutiger Befund war schwierig, erzählt die Dolmetscherin. Einen Mutterpass, der exakte Auskunft über den Entbindungstermin hätte geben können, Fehlanzeige. Iptisam Atallah ereilt aus dem Kreißsaal der Notruf: "Bitte kommen Sie!" Es war eine schwere Geburt - "vor allem für Hebammen, Ärzte und Schwestern". Die Verständigung war immens schwierig.

Das Mädchen kam gesund zur Welt, 2860 Gramm leicht, 48 Zentimeter klein. Der Vater war glücklich. Aus Dankbarkeit wollte er sein Kind Iptisam nennen. Der Name bedeutet Lachen. Die Freundin wehrte ab. "Das kann doch in Deutschland keiner aussprechen." Sie empfahl Sham. "Als Klammer zur Heimat Syrien."

Mutter und Kind sollten nicht zurück in die Massenunterkunft. "Wie sollte da das Stillen funktionieren?", fragt die agile Dolmetscherin. Sie aktivierte ihre Drähte zu den engagierten Flüchtlingshelfern in Alpen.

Andreas Rösen vom Sozialamt rief bei Margret Siemens (59) an. Die hatte signalisiert, dass sie bereitstehe, "wenn Not am Mann" sei. Und sie stand bereit, sagte spontan zu, die junge Familie bei sich aufzunehmen. "Wir wollten zeigen, dass Willkommenskultur praktisch funktioniert", sagt Margret Siemens.

Ihre Tochter (24) kam aus Münster, räumte über Nacht ihr 30 m2 großes Zimmer. Nun war's das Zuhause der jungen Eltern mit ihrem Baby - ihr eigenes kleines Reich. Hier konnten sie zur Ruhe kommen nach den Strapazen der Flucht.

Margret und Wolfgang Siemens sind von einem auf den anderen Tag Großeltern geworden. "Sie behandeln uns wie ihre eigenen Kinder", sagt Jehad, "und für uns sind sie unsere Eltern". Die Verständigung ist mühsam. Mit dem Online-Übersetzer dauert jeder Halbsatz eine kleine Ewigkeit, bis er beim anderen ankommt. Irritationen inbegriffen. Guter Wille ebnet kulturelle Gräben. "Wir machen täglich neue Erfahrungen", sagt Musiklehrerin Margret Siemens. Man kocht zusammen, sitzt gemeinsam am Tisch. Nicht immer. Privatsphäre ist wichtig - für alle. Das muslimische "Opferfest" haben sie ein wenig gefeiert.

Lernen ist keine Einbahnstraße. Iptisam Atallah bläut den Ankömmlingen Sekundärtugenden ein: "Ohne Pünktlichkeit und Sauberkeit kommt man in Deutschland nicht weit." Margret Siemens versucht, der jungen Mutter etwas Deutsch beizubringen.

Doch die heile Welt war tönern und letztlich nur von kurzer Dauer. Das interkulturelle Drei-Generationen-Modell ist erschüttert. Die Odyssee der syrischen Familie geht weiter. Ahed, Jehad und ihr Töchterchen Sham haben ihr bürgerliches Exil wieder verlassen. Auf amtliches Geheiß. "Der Abschied war traurig", erzählt Margret Siemens. Es sind Tränen geflossen. Die Flüchtlingsbürokratie aber verlangte, dass die Flüchtlingsfamilie in die Zentrale Unterbringungseinrichtung "Via Stenden" in Kerken umziehen musste. Dort hat sie nun miterlebt, wie sich ein Flüchtling aus Eritrea selbst angezündet hat.

Von dort wird nach dem "Königssteiner Schlüssel" verteilt aufs ganze Bundesgebiet. Wohin die Reise für ihre Schützlinge geht, wissen die Siemens' nicht: "Der Handy-Empfang ist schlecht. Die Sprachbarriere ist zu groß", so die 59-Jährige. "Wir werden den Kontakt nicht abreißen lassen!" - Das ist ein Versprechen.

(RP)
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