Wesel "Wandern ist die Schule des Lebens"

Wesel · Von Wolldecken mit der Aufschrift "Fußende", zu schälenden Kartoffeln und dem Glück des günstigen Wanderreisens in Wesels Jugendherbergen erzählte Bernd von Blomberg bei einem Vortrag vor der Historischen Vereinigung.

"Gibt es das heute noch, dass eine ganze Familie zu Fuß durch Felder, Wiesen und Wälder wandert und beiläufig lernt, wie die Blumen heißen, welches Getreide gerade reift, was für Bäume am Wegrand und im Wald wachsen, welche Vögel im Dickicht der Zweige singen? Wie erfrischend es ist, die freie Luft zu atmen." So mitreißend begann Bernd von Blomberg seinen Vortrag über die "Jugendherbergen in Wesel" am Mittwochabend vor der Historischen Vereinigung im Weseler Centrum.

Seine eigenen Erinnerungen an Betten bauen mit den darauf liegenden Wolldecken mit der Aufschrift "Fußende", an die ungeliebten Mithilfestunden in der Küche samt Kartoffelschälen, an das geliebte Leben in gemeinsamer Freiheit. Der Schwung vom Podium her in die zahlreiche Zuhörerschaft weckte sogleich seliges Zurückdenken bei denen, die das aus ihrer eigenen Jugend kannten, bei den anderen begeistertes Mitfühlen.

"Wandern ist die Schule des Lebens", war Richard Schirrmann, Erfinder der Jugendherberge, überzeugt. Dieser Volksschullehrer, 1874 in einem Dörfchen bei Heiligenbeil im ländlichen Ostpreußen geboren, wurde bald nach Gelsenkirchen, mitten ins Ruhrgebiet versetzt. Er erlebte dort Kinder, die unter den damals noch bedrängenden Bedingungen der Industrie litten: unter verrauchter Luft und allgemein knappen Lebensumständen. Hier setzte er an mit Wanderausflügen, Tagestouren, später mit Wanderreisen. Da wurden billige Übernachtungsmöglichkeiten benötigt. Für alle jungen Menschen, Mädchen und Jungen, sehr modern, sollten Wanderreisen erschwinglich werden. 1909 richtete Schirrmann in der Burg Altena im Sauerland die erste Jugendherberge ein. Von da aus ging die Bewegung durch Deutschland und weiter in Europa. 1910 wurde das Deutsche Jugendherbergswerk (DJH) gegründet, Leiter war Schirrmann. 1911 gab es 14 Jugendherbergen in Deutschland, 1912 bereits einige ausländische, 1914 eine in Wesel.

Im Stadthaus, einem Verwaltungsgebäude südlich der Mathenakirche, wurden Räume mit 26 Betten, dazu Wasch- und Essensmöglichkeiten geschaffen. Der Erste Weltkrieg, 1914 bis 1918, unterbrach die Entwicklung. Nach Kriegsende wurde die Herberge mit 20 Betten zwar neu eingerichtet, nur für Jungen, nun allgemein üblich. Bald wieder aufgegeben wurden die Räume, weil die Stadt dringenden Bedarf hatte. 1923 wurde beim Schlachthof die "Kindermilchanstalt" am Rheinglacis, die für gesunde Säuglingsmilch zu sorgen hatte, zur Jugendherberge umgebaut. Auch die Kirchen schufen Unterkünfte für reisende junge Menschen: seit 1902 die evangelische Gemeinde in ihrem "Vereinshaus und Herberge zur Heimat" an der heutigen Pastor-Janßen-Straße, die katholische Gemeinde im ehemaligen Zeughaus der Garnison an der Esplanade.

1933 nach der Gleichschaltung im Dritten Reich wurde Schirrmann zum Rücktritt als Leiter des DJH aufgefordert, Baldur von Schirach befahl den Verband. Die Herbergen wurden HJ-Heime und Schulungsstätten. 1934 gab es die neue Schill-Jugendherberge im sogenannten Offiziersgefängnis der Zitadelle. Im Zweiten Weltkrieg übernahm alles die Wehrmacht. 1947 wurde ein neues Jugendhaus hauptsächlich in Eigenarbeit für die neuen "Falken" am alten Lippehafen in der Gemeinde Obrighoven erbaut. Dieses "Haus der Jugend" wurde wegen seiner "hohen Qualität" und seiner "praktischen Völkerverständigung" gelobt. 1963 wurde es an den Kanuverband übertragen.

(RP)
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