Ostern 2014 Märchenhaft Warum Märchen Helfer sein können

Wesel · Anne Frädrich (64) will keine Märchentante sein. Sie ist eine leidenschaftliche Geschichtenerzählerin.

 Märchen können Kraft geben und Zuversicht: Als Anne Frädrich vor zwei Jahren psychisch kollabierte, bekam sie kein Wort mehr raus. Ihre Geschichten haben ihr geholfen, ihre Sprache wiederzufinden. Dafür ist sie sehr dankbar.

Märchen können Kraft geben und Zuversicht: Als Anne Frädrich vor zwei Jahren psychisch kollabierte, bekam sie kein Wort mehr raus. Ihre Geschichten haben ihr geholfen, ihre Sprache wiederzufinden. Dafür ist sie sehr dankbar.

Foto: Ekkehart Malz

HAMMINKELN "Märchentante" hört Anne Frädrich (64) nicht gern, "Märchenoma" erst recht nicht. "Ich muss nicht mit den Leuten verwandt sein, denen ich was erzählen will", sagte die pensionierte Lehrerin. Sie erzählt "Märchen und Geschichten". "Das lässt mir eine größere Freiheit bei der Auswahl meiner Texte", sagt Frädrich. Und sie erzählt mit einer Leidenschaft, die fesselt. "Ich liebe es, wenn Kinder mit offenem Mund vor mir sitzen, mir an den Lippen hängen und meine Geschichten aufsaugen."

 Der Stoff geht nie aus. Die Märchenbücher füllen bei Anne Frädrich ein ganzes Bücheregal (oben). Zu ihren Märchenstunden hat sie Erzählerin immer ihren schweren Holzkoffer von der "Zeche Eiserne Hand" dabei.

Der Stoff geht nie aus. Die Märchenbücher füllen bei Anne Frädrich ein ganzes Bücheregal (oben). Zu ihren Märchenstunden hat sie Erzählerin immer ihren schweren Holzkoffer von der "Zeche Eiserne Hand" dabei.

Foto: Malz, Ekkehart (ema)

Daher streift sie ihren schlichten Kaftan - ein marokkanisches Männerhemd - über. Aber nur, wenn Kinder ihr Publikum sind. "Das hilft ihnen, auf mein Gesicht, meine Mimik und Gestik zu achten", sagt sie. Lesen sei verboten. "Märchen gehören erzählt."

Ostern 2014 Märchenhaft: Warum Märchen Helfer sein können
Foto: Malz, Ekkehart (ema)

Und wenn sie so über ihre Kunst redet, sprechen ihre Augen mit. Die Geschichten sprudeln nur so aus ihrem Mund. Endlos. Zwischendurch erzählt sie immer wieder Märchen. Nicht ausladend. In Buchdeckelkürze. Auch das stets höchst lebendig. Und sie erzählt immer wieder eigene Geschichten, kommt von Höcksken auf Stöcksken.

Wie sie als Kind bei ihrer Oma am Ofen auf dem Höckerchen gesessen hat, um ihr zu lauschen, oder vom Besuch im Theater, wo auf der Bühne "Hänsel und Gretel" gespielt wurde und sie im Publikum die Hexe lauthals gewarnt hat, dass sie jemand in den Ofen schieben will. "Vorsicht Hintermann!", habe sie gebrüllt. Sie habe als Kind solche Angst gehabt vor Märchen und oft nicht schlafen könne, wenn man ihr abends eins erzählt hatte. Das Gespräch ist ein Selbstläufer. Die Rollen sind verteilt. Sie erzählt. Langweilig wird's zu keiner Sekunde.

Nicht die klassischen Grimmschen Märchen sind es, die Anne Frädrich so faszinieren, eher die, die in der Ferne spielen. Sie verrät ihren Märchenerzählerinnnentraum. Sie möchte es dem Geschichtenerzähler im Kaffeehaus in Norda frika gleichtun. Der webt Tagespolitik in die uralten Geschichten mit ein, lässt den Hut rumgehen, "und wenn's reicht, zieht er weiter". Eine hochintelligente Erzähltradition, sich politisch zu äußern, "ohne dass einem jemand an den Karren pupen kann".

In Afrika hat ihr Traum begonnen. Es war einmal. Vor vielen Jahren auf einem Marktplatz in Tanger, Marokko. "Einer steht und labert", in einer Sprache, die sie nicht verstand. Aber in den Gesichtern der vielen Menschen drumherum konnte sie die ganze Palette der Gefühle ablesen - wie aus einem offenen Buch. "Ich war Lehrerin. Einer erzählt und alle hören fasziniert zu, das hat mich begeistert", sagt die Erzählerin.

Doch es hat noch eine ganze Weile gedauert, bis sie die schweren Holzkoffer von der Zeche "Eiserne Hand" mit Utensilien gepackt hat, die sie zum Märchenerzählen braucht: bunte Tücher, Schalen, Kerzen, je nach dem. Anfang der 90er Jahre sei's gewesen, dass Marion Brunsiek, Rektorin an der Grundschule in Wertherbruch, sie gebeten habe, ihren Schülern eine Märchenstunde zu geben.

Die Lektion saß. Anne Frädrich hatte verstanden. Seither erzählt sie in Kindergärten, Schulen, Altenheimen, Frauentreffs - überall, wo man sie bittet. Sogar bei Hochzeitsfeiern. In der Schule war montags immer Märchenstunde. Die Lehrerin stellte einen Stuhl in die Mitte der Klasse, wer wollte, durfte sich draufsetzen und was erzählen. Sie liebt arabische Märchen, nicht nur die aus 1001 Nacht, weil man da nicht unbedingt sterben muss, nur weil man böse ist. Das Prinzip laute Waffengleichheit der Widersacher: "Der Gute darf sich der Methoden des Bösen bedienen, um sich Recht zu verschaffen."

Ihre europäischen Lieblingsmärchen hat Hans Christian Andersen aufgeschrieben. Am meisten mag sie "Das hässliche Entlein". Und "Die Nachtigall", die mit ihrem bezaubernden Gesang den Kaiser von China vom Totenbett aufstehen lässt. Sie schaltet in den Erzählmodus und gerät ins Schwärmen. Dann spricht die Pädagogin. Eltern sollten sich die Zeit nehmen, ihren Kindern abends vorm Schlafengehen eine Geschichte zu erzählen, "ohne dass die artig gewesen sein müssen". Nicht einfach eine Kassette einlegen. "Setzt Euch hin. Macht Frieden mit dem Tag. Völlig nutzlos." Und dann fällt ihr ein schöner Satz ein: "Dann wächst der Liebe eine neue Haut."

Inzwischen sind Märchen für sie auch zur Kopfarbeit geworden. "Ich habe damit begonnen, über Märchen zu forschen." Spannend, ja faszinierend sei das. Es gebe um die 1000, in allen Kulturen immer wiederkehrende Muster über die unterschiedlichsten Beziehungen von Menschen - archetypische Bilder wie bei Aschenputtel, die auch bei Harry Potter wieder auftauchen. Wenn sie in Altenheimen erzählt, würde sie immer erstaunt festellen, wie die Bilder funktionieren. Auch und gerade bei Leuten, deren Erinnerung eigentlich völlig im Dunkeln zu liegen scheint.

Ihr Lieblingsbuch zeigt deutliche Spuren des Gebrauchs. "Der Kaufmann und der Papagei" heißt es. Geschrieben von einem Psychotherapeuten, der mit Märchen verletzte Seelen heilt. Schon erzählt sie von der Taube, die zum Uhu kommt, weil ihr Nest immer so stinkt. Der Uhu kommt fragend zum weisen Schluss: "Viellelicht liegt's nicht am Nest, sondern an Dir, mein Täubchen?"

Märchen haben auch ihr geholfen, als sie verdammt schlecht drauf war, nachdem sie vor fast zwei Jahren psychisch in die Knie gegangen war. Da bekam die ehemalige Rektorin der Heinrich-Meyers-Hauptschule keinen Ton mehr raus. Mit den Märchen hat sie Schritt für Schritt wieder sprechen gelernt. Dafür ist sie unendlich dankbar.

(RP)
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