Serie Vor 200 Jahren Mehr Geld bei ansteckender Krankheit

Willich · In Zeiten ständiger Diskussionen über die Finanzierung unseres Gesundheitssystems, von Kassenleistungen und Arzthonoraren mag es nützlich sein, einen Blick in die Anfänge vertraglich geregelter medizinischer Leistungen zu werfen.

 Grundrisskarte von Dülken von 1825.

Grundrisskarte von Dülken von 1825.

Foto: Entnommen aus der Städteatlasmappe Dülken des Landschaftsverbandes Rheinland von 1979.

Alle denkbaren Fallkonstellationen wurden vertraglich berücksichtigt. Honorarfragen und Leistungsumfang standen dabei im Vordergrund. Die 35 Dülkener zusammen verpflichteten sich zur jährlichen Zahlung v0n 300 Reichstalern. In "freundschaftlicher Übereinstimmung" wurden zur Aufbringung dieses Geldes vier Klassen gebildet, "wovon die erste Klasse für jede Person jährlich 16 hiesige Reichsthaler, die zweite Klasse zwölf Reichsthaler, die dritte Klasse acht Reichsthaler und die vierte und letzte Klasse vier Reichsthaler beizutragen versprechen".

Dieser von solidarischer Grundeinstellung geprägte Vertrag, der ärztliche Gleichbehandlung (und keine "Zweiklassenmedizin") trotz unterschiedlicher Beiträge vorsah, schloss die Versorgung der Ehefrauen und Kinder und des Dienstpersonals ein. Der Arzt verpflichtete sich, seinen Wohnsitz in Dülken zu nehmen und erkrankte Vertragspartner "auf vorgegangenes Ersuchen als Arzt zu behandeln und dieselben, sooft nötig zu besuchen". Am Tage kosteten die Besuche einen Franken, nachts drei Franken. "Bei ansteckenden Krankheiten aber, wo das Leben des Arztes selbst in Gefahr kommt, wird für die Besuche das Doppelte berechnet."

Der Arzt durfte seine Leistungen auch außerhalb von Dülken anbieten, aber bei einer Abwesenheit von mehr als drei Tagen musste er für Ersatz sorgen. Das galt aber nicht bei "jeder gefährlichen hitzigen Krankheit" eines Vertragspartners. In dem Fall durfte er nicht außerhalb Dülkens übernachten.

Die 35 Dülkener, die sich auf diese Weise so gut wie es nach dem Standard der Zeit möglich war, ärztlichen Beistand sicherten, gehörten der Mittel- und Oberschicht der Stadt an (wobei solche pauschalierenden Kategorisierungen nicht unproblematisch sind). Als Berufsbezeichnungen erscheinen: Priester, Notare, Bäcker, Kaufleute, Gastwirte, Rosshändler, Apotheker, Gerber, Lehrer, Goldschmiede, Beamte.

Darunter befand sich Gerhard Mevissen, der Vater des bedeutenden rheinischen Industrie und Eisenbahnpioniers Gustav von Mevissen. Weitere damals gewiss stadtbekannte Vertragspartner waren Bürgermeister Peter Boscheinen, der Gold- und Silberschmied Wilhelm Melchior Cornely, der Kaufmann Mathias Gierlings, die Gastwirtin Witwe Holtz, die Vikare Langens und Brun und der Rosshändler Peter Conrad Hilgers. Für sie war die auf diese Weise erkaufte Sicherung ärztlicher Versorgung ein existenzieller Fortschritt, denn von allgemeiner medizinischer Unterversorgung wird man ausgehen müssen. Die wird auch in der gerade zurückliegenden französischen Ära nicht besser gewesen sein: 1806 sind für Dülken zwei "officiers de santé" genannt.

Dieser Dülkener Versicherungsvertrag auf Gegenseitigkeit wurde in einer Zeit geschlossen, als das Versicherungswesen sich erst allmählich zu entwickeln begann. Das Bedürfnis nach Absicherung gegen das mit der zunehmenden Industrialisierung wachsende Unfall-, Invaliditäts- und Krankheitsrisiko wurde immer größer. Doch es sollte noch rund sieben Jahrzehnte dauern, bis Otto von Bismarck seine epochale Sozialgesetzgebung durchsetzte, in deren Rahmen 1884 auch die Krankenversicherung geregelt wurde. Dabei übernahm schon damals der Arbeitgeber ein Drittel, der Arbeitnehmer zwei Drittel der Krankenkassenbeiträge. Für damalige Verhältnisse sensationell fortschrittlich waren die Leistungen: 60 Prozent des Lohnes bis zu 26 Wochen, ärztliche Behandlung, Arznei- und Hilfsmittel, Krankenhausbehandlung, Sterbegeld sowie Wöchnerinnenunterstützung.

(Der Dülkener Vertrag von 1817 ist in vollem Wortlaut im Heimatbuch des Kreises Viersen von 1985 nachzulesen.).

(RP)
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