Serie "zu Gast . . . Beim Kreuzbund" Wenn der Wille stärker ist als die Sucht

Willich · Die Serie entführt an ungewöhnliche Orte und stellt Menschen und Gruppen in den Mittelpunkt, die sonst nicht in der Öffentlichkeit stehen. Heute geht es um den Kreuzbund, eine Selbsthilfegruppe für Suchtkranke.

 RP-Mitarbeiterin Stephanie Wickerath (rechts) spricht mit der Selbsthilfegruppe des Kreuzbundes im Willicher Pfarrheim. Dort treffen sich Suchtkranke und ihre Angehörigen.

RP-Mitarbeiterin Stephanie Wickerath (rechts) spricht mit der Selbsthilfegruppe des Kreuzbundes im Willicher Pfarrheim. Dort treffen sich Suchtkranke und ihre Angehörigen.

Foto: WOLFGANG KAISER

WILLICH Kerstin ist 41 Jahre alt und seit einem Jahr trocken. Bevor sie ihren Nullpunkt erreichte, griff sie vor dem Frühstück schon zum Alkohol, damit das Zittern aufhört. Eine Flasche Rum war ihre tägliche Ration. Manchmal war es auch mehr. Und irgendwann war es so viel, dass Kerstin mit 4,2 Promille Alkohol im Blut ins Krankenhaus eingeliefert wurde. "Früher habe ich viel Sport getrieben, ich hatte Freunde, Hobbys, ich war selbstbewusst", erzählt die 41-Jährige beim Gruppentreffen des Kreuzbundes im Willicher Pfarrheim. In den Jahren, in denen sie trank, habe sich ihr Selbstwertgefühl im Alkohol aufgelöst.

Der Kreuzbund ist ein eingetragener Verein, unter dessen Dachverband sich deutschlandweit Selbsthilfegruppen gegründet haben, die sich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und mit der Unterstützung der katholischen Kirche finanzieren. 1300 Gruppen gibt es in der Bundesrepublik mit rund 27 000 Mitgliedern. In den Gruppen treffen sich wöchentlich suchtkranke Menschen und ihre Angehörigen. In Willich sind es um die 15 Menschen, die jeden Donnerstag um 19.30 Uhr im Pfarrheim zusammen kommen. Die meisten sind alkoholkrank, einige sind tablettenabhängig. Auch Eva, deren Tochter drogenabhängig ist, und Ulrike, die Ehefrau eines Spielsüchtigen, suchen Hilfe in der Gruppe.

"Das Grundproblem ist, dass man sich selber nicht aushalten kann", sagt Günter Lickes, der seit 30 Jahren im Kreuzbund ist und die Willicher Gruppe leitet. Der Alkohol, die Tabletten, das Spielen, die Drogen, egal was es ist, es helfe, um sich selber ertragen zu können. Alle hier wissen, wovon er spricht, denn sie alle haben die Sucht selber oder als Angehörige erlebt. Da ist Hermann, den seine Tochter jahrelang nur betrunken kannte. "Ich habe jetzt den Vater, den ich mir immer gewünscht habe", habe die heute 27-Jährige neulich gesagt, erzählt Hermanns Frau, die immer noch Angst hat, dass ihr Mann rückfällig wird.

Gunther und Heike kennen das. Etliche Jahre drehte sich bei Gunther alles nur um seine Alkoholsucht. Erst als Heike sagte, sie ziehe aus, und es außerdem in der Firma Probleme gab, weil Gunther auch am Arbeitsplatz betrunken war, zog der 55-Jährige die Reißleine. "Es war ein harter Weg, aber ich bereue nicht, dass ich ihn gegangen bin", sagt Gunther, der heute wieder viel und gerne lacht. Als er noch trank, habe er keine Lebensfreude mehr gespürt. "Ich hatte auch nicht die gleichen Interessen wie meine Frau", erinnert sich der 55-Jährige, "bei mir ging es nur um die Sucht."

Ich sitze da, höre die Geschichten und frage mich, wo die Grenze ist. Bis zu welchem Grad ist das Glas Wein, ist die Flasche Bier noch "normal" und wo wird es zu viel, wo beginnt die Abhängigkeit? Günter Lickes sagt, wenn die Familie, die Arbeit und die Hobbys in den Hintergrund treten und die Sucht das Leben bestimmt, dann ist es zu spät. Wie schwer es ist, da wieder rauszukommen, die Sucht zu bekämpfen, wieviel Kraft und Willensstärke es braucht, das haben die Leute in dieser Runde erlebt. Entgiftung, Therapie, Rückfall und das Ganze wieder von vorne.

Wer eine Selbsthilfegruppe besucht, heißt es, hat eine wesentlich größere Chance, clean zu bleiben. Die Willicher Gruppe ist dafür ein gutes Beispiel. Viele der Mitglieder sind seit zehn, 20 und sogar 30 Jahren trocken. Das bedeutet kein einziges Glas Sekt an Silvester, bei Geburtstagen oder Hochzeiten, kein Rotwein zum Braten, kein Bier beim Grillen. Wer ein Leben ohne die Droge will, muss sich ein ganz neues Leben aufbauen. Vor jedem, der das geschafft hat, habe ich wirklich allergrößten Respekt.

(WS03)
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