Serie Vor 75 Jahren: Kempens Zweite Judendeportation "... wie schnell die Würde verloren geht!"

Willich · Am 24. Juli 1942 wurden die letzten 18 noch in Kempen und St. Hubert verbliebenen Juden auf den Weg nach Theresienstadt gebracht. Eine Ausnahme bildete nur der Viehhändler Max Mendel aus St. Hubert. Weil er mit einer "arischen" Frau verheiratet war, durfte er noch zu Hause bleiben und wurde erst am 4. November nach Auschwitz gebracht, nachdem Nachbarn ihn denunziert und Behörden seine Verhaftung bewirkt hatten.

 Die Familie Hirsch aus Kempen 1931 bei der Hochzeit ihres Sohnes Ernst (mittlere Reihe rechts) in Berlin. Acht der hier dargestellten Personen kamen durch den Holocaust um, darunter der Kempener Metzgermeister Isidor Hirsch, seine Frau Johanna (obere Reihe von rechts) und seine Schwester Hannchen (mittlere Reihe dritte von rechts). Sie wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert.

Die Familie Hirsch aus Kempen 1931 bei der Hochzeit ihres Sohnes Ernst (mittlere Reihe rechts) in Berlin. Acht der hier dargestellten Personen kamen durch den Holocaust um, darunter der Kempener Metzgermeister Isidor Hirsch, seine Frau Johanna (obere Reihe von rechts) und seine Schwester Hannchen (mittlere Reihe dritte von rechts). Sie wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert.

Foto: Wally Hirsh/Aukland

kempen Was dachten die Kempener damals über dieser Deportation? Offiziell hieß es, die Juden würden zum "Arbeitseinsatz im Osten" gebracht. Aber weil die meisten der Deportierten über 70 waren, konnte sich das kaum einer vorstellen. Ein halbes Jahr nach der Deportation, im Januar 1943, wurde in Kempen, auch das ist schriftlich belegt, ganz offen von "der Judenausrottung" gesprochen. Das war nicht nur in Kempen so. Neue Untersuchungen deuten darauf hin, dass spätestens im Sommer 1943 die große Mehrheit der Deutschen damit rechnete, dass alle im Herrschaftsbereich der Nazis lebenden Juden umgebracht werden sollten. Mithin kann sich kaum einer der damals Lebenden herausreden: "Davon haben wir nichts gewusst!"

Die Vorbereitungen liefen ja schon länger. Im Dezember 1941 sind die 32 Juden, die es damals in Kempen noch gegeben hat, aus ihren bisherigen Wohnungen ausquartiert und in so genannten "Judenhäusern" zusammengezogen worden: Das waren die Häuser Schulstraße 10, Josefstraße 5 (an der Stelle des heutigen Hauses Heilig-Geist-Straße 21), Josefstraße 7 (später für die Fahrbahn der Heilig-Geist-Straße abgerissen), Engerstraße 38. Was für eine Enge muss in den neuen Quartieren geherrscht haben! In dem schmalen Haus Schulstraße 10 lebten nun acht Menschen, an der Josefstraße 5 elf.

Der Weg in den Tod ist bürokratisch genau geregelt. Mitgenommen wird nur das Reisegepäck: ein Rucksack für Lebensmittel und ein kleines Stück Handgepäck. Die Gestapo hat die Betroffenen vorsorglich angewiesen, ihre Gas-, Wasser- und Stromrechnungen vor der Abfahrt zu bezahlen, und ihnen eröffnet, dass ihr gesamtes Vermögen beschlagnahmt worden ist. Die Eheleute Sally (81) und Nanni (76) Servos, vor ihrer Überführung in das "Judenhaus" Josefstraße 5 wohnhaft an der Vorster Straße 16, sind von den Vorbereitungen überfordert, wissen nicht, woher sie die Blechschüssel nehmen sollen, die man ihnen mitzunehmen zugestanden hat. Da gibt ihnen die Bauernfamilie Strumpen aus Schmalbroich die sauber geschrubbte Schüssel ihrer Katzen mit.

Am frühen Morgen des 24. Juli 1942 werden die Juden aus ihren Häusern abgeholt. Der größte Teil der Deportierten ist schon älter und kann nicht mehr gut laufen. Als Transportmittel dient deshalb ein Lastwagen, den die Kempener Polizei vom Spediteur Max Nauels, Bahnstraße (heute: St. Huberter Straße) 7, gemietet hat.

An der Engerstraße werden die Bewohnerinnen des Judenhauses Nr. 38 auf den Lkw kommandiert. Die begleitenden Polizisten befehlen den betagten Schwestern Berta (79) und Karoline (77) Berghoff, sich auf die Ladefläche zu setzen. Daraufhin bringt die Bauernfamilie Nopper, die von ihrem Hof gegenüber, wo heute der Discounter KODi untergebracht ist, den Vorgang beobachtet, den gebrechlichen Frauen zwei Stühle. Aber die Bewacher wehren ab: "Runter damit! Die brauchen keine Stühle!" Von der Burgstraße rollt der Lkw mit den Deportierten auf der offenen Ladefläche über die Thomasstraße, überquert den Ring und fährt weiter zum Bahnhof der Industriebahn, des so genannten "Schluff". Der bringt die Deportierten zum Krefelder Südbahnhof, von dem sie zu Fuß zum Hauptbahnhof gelangen. Hier übernehmen Gestapo-Beamte der Außendienststelle Krefeld die weitere Überwachung der Juden, bis diese in den Zug nach Düsseldorf-Derendorf einsteigen. Von dort fahren sie am nächsten Tag nach Theresienstadt ab.

Eine der Deportierten aus dem Kreisgebiet ist Sabine Gutmann aus Osterath. Jahrzehnte später wird sie ihre Erinnerungen schildern: "Als wir in Theresienstadt ankamen, wurde ich aus dem Waggon geprügelt. Mit 35 Frauen hatten wir einen Raum von 16 Quadratmetern. Viele von unserem Transport starben in der ersten Nacht. 15 nahmen sich das Leben. Acht Monate habe ich krank auf einem Bett in der Ecke gelegen. Einer meiner Brüder und seine Frau waren auch da. Sie wurden bald nach Auschwitz geschafft. Ich hatte mir Gift besorgt. Man hat es mir abgenommen, und ich musste meinem Mann versprechen, dass ich mich nicht umbringe. Dem Kampf um die Stelle zum Schlafen, um Nahrung, gegen Krankheiten und Seuchen waren die alten Juden aus dem Rheinland besonders wenig gewachsen."

Theresienstadt ist im 18. Jahrhundert als Festungsstädtchen für 3500 Soldaten und Zivilisten erbaut worden. Es gilt als "Vorzeige-KZ" der Nazis, das privilegierten und älteren Juden vorbehalten ist. Eine sorgfältig präparierte Abteilung wurde sogar von einer Kommission des Schweizer und dänischen Roten Kreuzes inspiziert. Jetzt sind dort ständig 40 000 bis 50 000 Menschen auf weniger als einem Quadratkilometer tschechischer Erde zusammengepfercht: "Ein Sumpf, eine Jauche, wo man die Arme nicht ausstrecken konnte, ohne auf andere Menschen zu stoßen... Nicht einmal im Klo war man allein, denn draußen war immer wer, der dringend musste." Im Schnitt verfügt jeder Getto-Insasse im August 1942 über einen "Wohnraum" von 1,6 Quadratmeter.

Die Essens-Rationen sind erbärmlich: "Wer es nicht mitangesehen hat, wie die alten Menschen sich am Schlusse der Essensausgabe auf die leeren Fässer stürzten, mit den Löffeln sie auskratzten, selbst die Tische, auf denen ausgeteilt wird, nach Resten mit Messern untersuchten, der vermag sich kein Bild davon zu machen, wie schnell Menschenwürde verloren geht", hat ein Überlebender berichtet. Alles in allem sind fast 140 000 Menschen dorthin deportiert worden, von denen nicht einmal 18 000 bei Kriegsende befreit werden konnten.

Als erste der Kempener Deportierten ist am 17. August 1942 Bertha Berghoff tot, zwei Tage nach ihrem 81. Geburtstag. Am 6. September 1942 erliegt die 80-jährige Magdalene Ajakobi den Strapazen; ihre Schwester Karoline stirbt am 7. Oktober 1942. Die Eheleute Nanny und Sally Servos verscheiden im Abstand von nur sechs Tagen: Sally Servos am 19., Nanny am 25. November 1942. Der Ort ist ein Durchgangslager in die Vernichtungs-KZ im Osten. Im Frühherbst 1942 setzen die großen Transporte in die Todeslager ein. Schon am 21. September 1942 werden die Eheleute Johanna und Isidor Hirsch aus Kempen von Theresienstadt nach Treblinka bei Malkinia im Distrikt Warschau gebracht, aber auch Eva Lambertz aus St. Hubert. Acht Tage später folgt ihnen Isidor Hirschs Schwester Hannchen nach Treblinka. Mit demselben Transport nach Treblinka am 29. September müssen die Schwestern Emma und Johanna Ajakobi, Karoline Berghoff, Helene Simon und Eva Falk mit. In Treblinka sind sie alle umgekommen. Siegmund Winter aus Kempen, Josefstraße 5, damals 78 Jahre alt, stirbt am 11. März 1943 in Theresienstadt. Seine Tochter Karola (43) ist gehbehindert, sie hat in Kempen trotzdem für den Vater gesorgt. Als er gestorben ist, gibt es keinen Grund mehr, sie im Privilegierten-KZ Theresienstadt zu belassen. Am 20. März 1944 wird sie nach Auschwitz deportiert. Wahrscheinlich ist sie schon auf der Fahrt umgekommen.

(RP)
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