Adventserie Musik Und Wunder Zersprungene Zeit, die mich durchkreuzt

Willich · Marcell Feldberg, Schriftsteller und Kirchenmusiker in Schiefbahn, schreibt für die Rheinische Post zu jedem Adventwochenende eine Geschichte.

 Unser Autor Marcell Feldberg ist Kantor an St. Hubertus in Schiefbahn und hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht.

Unser Autor Marcell Feldberg ist Kantor an St. Hubertus in Schiefbahn und hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht.

Foto: Kaiser, Wolfgang (wka)

Unlängst ein Weihnachtsmarkt in einer rheinischer Stadt: Es ist kein Vorbeikommen, auch wenn man vorbei muss, um irgendwo anders hin zu kommen. Die bunten Buden bersten vor Fülle. Kerzen in allen Farben, Dekor und Deckchen, Christbaumschmuck aller Art, usw. Selbstverständlich gibt es auch Christbaumkugeln, auf deren glänzenden Oberfläche sich das Gesicht des Betrachters spiegelt. Ein Duftschleier aus Glühweingeruch und gebackener Luft schwebt über allem. Aus einer Seitenstraße spazieren ein paar Funkenmariechen heran und mischen sich in das immer absurder werdende Bild. Aus Lautsprechern erklingt in einer Endlosschleife weihnachtlicher Kinderchorgesang. Aus dem Hintergrund drängt sich Schlagermusik nach vorne, blecherne Stumpfheit im Viervierteltakt. Verzerrter Christmas-Jazz wellt sich wie eine schlecht gebundene Schleife um das Geschehen. Das Ganze erinnert einen an die Groteske der "Rheinischen Kirmestänze", die der Kölner Komponist Bernd Alois Zimmermann in den 1960er Jahren schrieb. Noch mehr aber erinnert das Klangkonglomerat an dessen riesige Klangcollagen, in denen Musik aller Zeiten, etwa Bach und Beatles sowie Bruchstücke aus Reden von Hitler und Mao in einer ohrenbetäubenden Gleichzeitigkeit erklang. Für Zimmermann, alles andere als der Inbegriff eines "fröhlichen Rheinländers", präsentierte sich die Zeit als Kugelgestalt, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer pluralen Zeit aufgehen, in einem simultanen Jetzt. Abseits des Trubels steht ein Mann in zerschlissener Kleidung, ein Obdachloser. Er spielt auf der Gitarre und wartet darauf, dass sein auf dem Boden stehender Pappbecher sich mit Kleingeld füllt. Es ist nicht auf Anhieb zu erkennen, was er da spielt. Es klingt verfremdet - eine verfremdete, beinahe schäbige und doch schöne Musik, aus der Zeit gefallen wie der Mann selbst. Er scheint nicht von dieser Welt zu sein, als sei er hinter sein eigenes Gesicht gefallen. Die Musik klingt ein wenig nach Bach. Es könnte auch ein Song von Sting sein... Vielleicht Stings "You only cross my mind in winter". Aber das ist vielleicht Einbildung oder nur ein frommer Wunsch. Zarte, zaghafte Klänge, zärtlich aber auch zersplittert. Musik wie aus einer zersprungenen magischen Kristallkugel, aus der sich nicht mehr ablesen lässt, was die Zeit bringen wird.

VON MARCELL FELDBERG

(RP)
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