Zum Sonntag Der Splitter im Auge des Nächsten

Xanten · Meine Frau hatte Recht! Es sah bescheiden aus. Was sich da auf meinem Kopf zeigte, hatte nicht mehr im Entferntesten noch was mit einem gepflegten Haarschnitt zu tun. "Ich hab's dir 1000 Mal gesagt. Wenn Du dir die Haare abrasieren lässt, siehst Du aus wie ein zu dick geratener Luftballon", stöhnte sie. "Gott sei Dank wächst das wieder nach."

Nicht jeder Fehler wächst sich aus. Manche Fehler trägt man ein ganzes Leben mit sich herum. Wie bei der Seniorin, die nicht damit fertig wird, im Krieg ihr Kind abgetrieben zu haben. Oder wie bei dem jungen Mann, der seine Freundin mit dem gemeinsamen Kind stehengelassen hat und sich nun nicht traut, sie um Verzeihung zu bitten. Warum tun wir uns eigentlich so schwer mit eigenen Fehlern und warum sind wir geradezu geil darauf, andere dabei zu erwischen, wie sie durch ihre Fehler ins Straucheln kommen? Schon der Philosoph Seneca hat gesagt: "Fremde Fehler sehen wir, die unsrigen aber nicht." Und Jesus wusste, dass wir uns lieber über den kleinen Splitter im Auge des Nächsten aufregen als über den riesigen Balken im eigenen. Von Gustav Heinemann ist der Satz überliefert: "Wer auf andere mit dem ausgestreckten Zeigefinger zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst." Ich wünsche mir, dass wir uns zu einer Gesellschaft entwickeln, in der Fehler das sein dürfen, was sie sind: Erfahrungen, die man nicht noch mal machen muss. Ich wünsche mir, dass bei uns Fehler nicht künstlich zu Katastrophen aufgeblasen werden, sondern verstanden werden als Herausforderungen. Ich wünsche mir, dass wir gnädig mit denen umgehen, die etwas falsch gemacht haben, und ihnen eine Chance geben, ihren Fehler wieder gutzumachen oder noch mal von vorne zu beginnen. Ich wünsche mir, dass wir das Wort Jesu beherzigen, wonach nur derjenige das Recht hat, den ersten Stein zu werfen, der selbst ohne Fehler ist.

Wo wir schon dabei sind: Vielleicht sollte ich meiner Frau noch beichten, dass ich ihr hässliches Lieblingskleid aus Versehen in die Bethel-Sammlung gegeben habe...

UDO OTTEN, PFARRER DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE RHEINBERG

(RP)
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