Zum Sonntag Was heißt hören?
Xanten · Jubilate - Kantate - heißen die Sonntage auch im Kirchenjahr. Carl Dieter Hinnenberg spricht in seinem letzten Beitrag für unsere Zeitung über die Kunst, zuzuhören.
Das Ohr ist ein wichtiger Körperteil. Mit ihm nehmen wir wahr, was für uns bedeutsam ist. Die Augen kann man schließen, die Ohren nicht. Das Ohr hält uns Tag und Nach gleichsam am Puls des Seins. Die Welt ist Klang - Schritt für Schritt. Die Ohren sind das erste, was sich im Mutterleib differenziert ausbildet, um die Welt wahrzunehmen. Wir hörten schon, bevor wir auf die Welt kamen. Wir hören selbst dann noch, wenn wir im Begriff sind, aus ihr wegzugehen. Und der Glaube, sagt der Apostel Paulus im Neuen Testament, kommt aus dem Hören.
Wir werden beim Hören unterschieden müssen. Wir werden auswählen müssen. Das ist nötig. Denn wir sind mit dem Ohr allen möglichen Geräuschen ausgesetzt. Sie strömen auf uns ein. ohne dass wir uns wehren können. Die Augen kann man schließen, die Ohren nicht. Das Ohr ist besonders verletzlich. Eine Bachsuite ist etwas anderes als der Lärm eines Rasenmähers. Man begegnt Spaziergängern und Joggern im Wald, die Musik, ja sogar Vogelstimmen aus ihren Kopfhörern hören und nicht live die "Stimmen der Vöglein im Walde".
Warum sagt das alte Bekenntnis der Bibel: "Höre Israel, der Herr, dein Gott ist einer. Du sollst Gott, deinen Herrn lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele." Und Jesus ergänzt: "Und deinen Nächsten wie dich selbst." Hat das Lieben mit dem Hören oder Nichthören zu tun? Es gibt eine sonderbare frühchristliche Legende. Sie erzählt, Maria, die Mutter Jesu, habe ihr Kind durch das Ohr empfangen. Warum bloß durchs Ohr? Hatten die Legendenerzähler vielleicht etwa davon verstanden, dass es kein Leben, kein Sein ohne Hörbares, ohne Töne gibt? Und es stimmt ja: das Empfangsorgan für die Wahrnehmung des Lebens ist das Ohr. Haben wir diese alte Erkenntnis vielleicht vergessen?
Mark Medoffs Buch "Gottes vergessene Kinder" erzählt die bewegende Geschichte gehörloser Menschen. In einer Szene sitzt Thomas mit Sabine in einem Restaurant in Zürich. Zum Essen ertönt aus dem Lautsprecher rhythmische Musik. Sabina sagt: "Das ist ein Teufelskreis. Die Leute werden schwerhörig, weil sie immer lautere Musik hören. Und weil sie schwerhörig sind, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als immer lauter aufzudrehen." Können wir noch hören ohne technisch hergestellte Geräuschkulisse? Können wir noch innehalten und die Stille hören? Wir müssen nicht auf den Ohren sitzen, um diese Fähigkeit zu verlieren. Unsere Lebensumstände sind dabei, uns das Hören auszutreiben.
"Wer Ohren hat zu hören, der höre", sagt Jesus, der Rabbi aus Nazareth. Er hat als Israelit und Jude gewusst, dass damit die Liebe beginnt. Er hat etwas davon gewusst, dass Erkenntnis der Wirklichkeit und Wahrheit mit Hören anfängt, mit Hinhören und Anhören. Hören ist wesentlich für das Überleben. Das präzise und differenzierte Hören. Das Hören, das Wesentliches vom Unwesentlichen unterscheidet. In der Natur können wir das beobachten. Das Wild überlebt durchs Hören. Den Kieselstein, der unter meiner Schuhsohle knirscht, hört die Ricke und ergreift mit dem Kitz die Flucht. Hören ist wesentlich. Auf für uns Menschen.
Wer hört, leiht einem Menschen sein Ohr. "Am Sonntag war ich", erzählte mir eine Mitarbeiterin in der Pressearbeit unserer Kirche, "in einem Konzert, in dem der Sänger - ein weltberühmter Bariton - Schumann-Lieder im ausverkauften Düsseldorfer Opernhaus sang. Es war einfach hinreißend." Was veranlasst uns, Menschen zuzuhören? Es dürfte die Faszinations der Stimmbeherrschung sein, mit der eine Sängerin, ein Sänger Töne produziert - in Höhen und Tiefen, die einem Ungeschulten ganz unmöglich erscheinen. Es dürfte die Ausdruckskraft sein, mit der er oder sie die Stimme einer Melodie, einer Tonart oder eine Textaussage trifft. Es dürfte auch die Deutung sein, die er oder sie damit dem dargebotenen Lied gibt. In dem allen wird aber noch etwas anderes eine wichtige Rolle spielen, wenn ein Sänger oder Musiker mit seinem Instrument uns über unser Ohr im Wesen anspricht oder anrührt: Wir fühlen uns verstanden. Wir empfinden mit dem Sänger oder Instrumentalisten gemeinsam. Wir haben die gleiche Wellenlänge. In einem bestimmten Ausschnitt des Lebens sind wir einig. Einig durch Singen und Hören.
"Wer Ohren hat zu hören" der höre genau hin. Um wegzuhören, wenn er meint, dass sein Hören, als Mittel zum Zweck missbraucht wird. Nur dann wird es uns gelingen, neuen Zugang zum Hören zu gewinnen, das uns nicht zu einem Teil eines Nutzsystems macht. Zum Hören von Klängen und Tönen, die uns erlauben, einig zu sein mit einer Deutung, die dem Leben in seiner Vielfalt dient, die das Leben als einen Zweck ehrt und nicht alles im Leben zum Mittel herabwürdigt. Womöglich finden wir dann auch einen neuen Zugang zur Stille, der voraussetzung, um hören zu können.
CARL DIETER HINNENBERG IST PFARRER UND SUPERINTENDENT IM RUHESTAND UND LEBT IN XANTEN.