Zum Sonntag Webfehler der Reformationsgeschichte
Xanten · An diesem Wochenende beginnt die Woche der Brüderlichkeit. Seit Jahrzehnten findet eine solche Woche bundesweit statt. Mehr als 80 christlich- jüdische Gesellschaften organisieren hunderte von Veranstaltungen des Dialogs zwischen christlichen und jüdischen Gemeinden. In diesem Jahr trifft es sich, dass gleichzeitig auch der 500-jährigen Reformation gedacht wird. Die Protestanten verweisen dabei besonders gern und durchaus mit berechtigtem Selbstbewusstsein auf vier rote Fäden im Gewebe des reformatorischen Denkens.
Sie meinen damit als einen ersten roten Faden die Erkenntnis der Reformation, nach der "allein die Schrift" (gemeint ist die Bibel, in der Sprache der Theologen SOLA SCRIPTURA) Maßstab für Handeln, Glauben und Hoffen des Menschen sei.
Sie meinen damit als zweiten roten Faden, dass sein Verhältnis zu Gott weder durch Frömmigkeitsübungen, gute Werke und persönlich ethisch wertvolles Handeln intakt und belastbar bleibe, sondern "allein durch den Glauben" (SOLA FIDE sagt dazu die theologische Rede).
Sie meinen ferner und drittens, der Mensch brauche seinen tatsächlich bestehenden unermesslichen Wert und seine unverlierbare Zukunft nicht aus sich selbst heraus herzustellen (was er gar nicht kann), sondern "allein aus Gnade" rückt und richtet Gott ihn zurecht (SOLA GRATIA heißt das in der Theologie).
Und die reformatorischen Kirchen meinen schließlich und als vierten roten Faden: Wir Menschen haben nicht durch Vermittlung eines Amtes (Bischofsamt, Priesteramt, Pfarramt) solchen Zugang, solches Verhältnis zu Gott, sondern "allein durch Christus", also den Rabbi aus Nazareth (SOLO CHRISTO sagt die theologische Rede), also durch den, der für Christen in vollkommener Weise den Willen und die Absichten Gottes für die Menschen der Heidenwelt gelebt hat. So lesen wir durch ihn und mit ihm in dem Glaubensbuch der jüdischen Gemeinden, in der hebräischen Bibel, dem sogenannten Alten Testament.
Und nun das Unfassbare: Diese jüdischen Gemeinden mißhandelt der in vielen Fragen - von der Freiheit eines Christenmenschen bis zur genialen Übersetzung der Bibel - wegweisende Reformator.
Dr. Martin Luther, Professor der Theologie in Wittenberg, in dramatischer Weise. Er wünscht ihnen den Untergang, will sie in ihren Häusern verbrennen und sie selber, wo man sie greift, ertränken lassen. So schreibt er selbst. Welch ein tragischer Webfehler in der Reformationsgeschichte. Und mehr. Denn jedes reformatorische SOLUS, jeder rote Faden findet sich bereits als alttestamentliche Erkenntnis in eben dem Glaubensbuch, das den jüdischen Gemeinden als Fundament diente und auch heute dient.
Man lese einfach zu SOLA SCRIPTURA den ersten Psalm, das Lob der Thora, das Lob der Schrift. Und zu SOLA FIDE lese man 1. Mose 15 Vers 6 (vom Glauben Abrahams) und zu SOLA GRATIA eben dieselbe Stelle u.a.) Und zum vierten roten Faden SOLO CHRISTO nehme man alle Textstellen des Alten Testaments zur Kenntnis (z.B. Sacharja 9,9; Jesaja 60,1 oder Micha 5,1), die einen zukünftigen Messias Israels erwarten. Das alles außer Kraft zu setzen:
Welch ein Webfehler der Reformationsgeschichte! Wenngleich der Christus Jesus die Christen mit den Juden unlöslich verbindet und sie zugleich schmerzlich trennt, ist doch das alles wahrlich Grund genug, nicht nur das tragische Versagen zu benennen und zu bekennen, sondern mehr als eine Woche lang das notwendige Gespräch endlich und immer neu zu führen.
Wie sonst könnte einst - vielleicht - ein zukünftiger fünfter roter Faden in der Gemeinsamkeit gewoben werden:
SOLI DEO GLORIA.
Allein Gott zur Ehre.