Berlin 1964 – der geburtenstärkste Jahrgang wird 50

Berlin · In Deutschland kamen 1964 genau 1 357 304 Babys zur Welt – so viele wie nie zuvor und nie wieder danach seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Jahrgang, der 2014 das Alter von 50 erreicht, will nun dem Land seinen Stempel aufdrücken.

Es sind die Kinder der Beat-Generation, die 2014 vor 50 Jahren geboren wurden. Genau 1 357 304 Babys erblickten in den Kreißsälen der beiden Teile Deutschlands das Licht der Welt. Die Zahl markierte den Höhepunkt eines Geburtenbooms, der seit den 50er Jahren einsetzte und Deutschland einen der stärksten Bevölkerungszuwächse der Geschichte bescherte. Danach kamen Pillenknick und Geburtenrückgang, erst langsam, dann immer rascher. Jetzt ist Deutschland im Vergleich der Industrieländer ganz unten bei der Geburtenrate, während der Jahrgang 1964 im neuen Jahr schon 50 wird.

Die Babyboomer wurden in einer bewegten Zeit geboren. In den 60er Jahren erreichte die Bundesrepublik ihren ersten Reifegrad, Industrie und Gesellschaft hatten sich wie nie zuvor modernisiert, der Massenverkehr entstand, das Fernsehen, die Urlaubsreisen, die Herztransplantation, die Raumfahrt, der Mini-Rock. In der Musik revolutionierte die Beat- und Rockmusik eine ganze Generation. Im Jahr 1964 schlugen die Beatles und die Rolling Stones, die beiden Top-Gruppen aus England, alle Rekorde. Die erste große Jugendrevolte in der Geschichte der Menschheit stand an.

Was ist aus den Kindern der "wilden Sechziger" geworden? Vor allem aus dem geburtenstärksten Jahrgang, der nun 50 wird? Viele bekannte Gesichter haben als Geburtsjahr 1964 in ihrem Personalausweis stehen – der frühere Bundestrainer Jürgen Klinsmann, der niederrheinische Komiker Hape Kerkeling, der Philosoph Richard David Precht, die Mönchengladbacher Bestseller-Autorin Rebecca Gablé und die mögliche künftige Ministerpräsidentin von Bayern, die CSU-Politikerin Ilse Aigner. Längst haben sich viele Persönlichkeiten aus diesem Jahr etabliert – auch wenn sie bislang noch nicht die Schallmauer von 50 erreicht haben.

Denn dieses Alter gilt gewissermaßen als Eintritt in die exklusive Gesellschaft, die an den Schalthebeln der Macht sitzt. Fast alle Vorstandschefs der Dax-Unternehmen sind zwischen 50 und 60 Jahre alt, ebenso die Kanzlerin und die Mehrzahl der Minister des neuen Kabinetts. Die meisten Ministerpräsidenten sind es, aber auch die Spitzen der wichtigsten Behörden, der Gewerkschaften und Verbände, selbst die Chefs großer Kultureinrichtungen, Theater wie Opern, die Intendanten der Rundfunkanstalten oder die Geschäftsführer und Chefredakteure vieler Medien.

Offenbar mischt sich in diesem Alter Elan und Dynamik optimal mit der Erfahrung. Allerdings verzichten viele, die zwischen 50 und 60 Jahre alt sind, auf revolutionäre Änderungen. Die Pioniere des Internet-Zeitalters sind viel jünger, viele Revolutionäre vergangener Tage auch. So wurde auch die Jugendrevolte der 60er Jahre vor allem die 20- und 30-Jährigen dominiert.

Der Jahrgang 1964 hat also seine Revolution verpasst. Er verbrachte seine Kindheit und Jugend in den bewegten 60er und 70er Jahren, wurde politisch und kulturell aber erst in den 80er Jahren geprägt. Damals waren die Grünen die aufstrebende politische Kraft. Aus dem Jahrgang 1964 stammt aber nur die vergleichsweise unbekannte Haushaltspolitikerin Antje Hermenau, und die kommt auch noch aus dem Osten. Gleichwohl wurden der aus einem marxistischen Elternhaus stammende Precht oder die frühere Jungsozialistin und heutige rheinland-pfälzische Schulministerin Doris Ahnen (SPD) in den 80er Jahre sozialisiert, einer Zeit, in der sich das politische Engagement gegen konkrete Projekte wie Atomkraftwerke oder neue Autobahnen richtete. Sowohl Precht wie Ahnen zeichnet eine feste politische Meinung, aber auch ein hoher Pragmatismus und eine erstaunliche Offenheit aus.

Vielleicht ist das auch das Kennzeichen des 64er Jahrgangs, der sich von der Ideologie der 68er abwandten. Dafür steht etwa auch der Vorsitzende der Gewerkschaft IG Bergbau Chemie Energie, Michael Vassiliadis, ein Gewerkschafter, der genauso gut ein großes Industrieunternehmen leiten könnte.

Andererseits ist das Spielerische, Unernste, aber auch Zupackende im geburtenstarken Jahrgang präsent. Der verblüffend unernste Hape Kerkeling steht dafür, trotz seines Hintersinns. Auch der strahlende Jürgen Klinsmann, der sich anschickte, nur mit guter Laune und Willenskraft die deutsche Nationalelf zur Weltmeisterschaft zu führen. Es hat nicht ganz geklappt, dafür gewann Deutschland im Sommermärchen 2006 die Herzen der ganzen Welt. Selbst die DDR-Athletin Heike Drechsler, die 2014 ebenfalls 50 wird, hat Sympathiepunkte gewonnen – auch im Westen.

Politisch und wirtschaftlich sind die künftigen 50-Jährigen zwar in den Startlöchern, aber noch nicht in den Spitzenpositionen. Aus der Riege der Politiker ragt lediglich Ilse Aigner (CSU) hervor, das große Talent aus Bayern. Die frühere Verbraucherministerin könnte die erste Frau sein, die den 1500-jährigen Freistaat führt. Und Henkel-Personalchefin Kathrin Menges, Jahrgang 1964, leistete ebenfalls als eine der ersten Spitzen-Managerinnen Pionierarbeit in deutschen Vorstandsetagen.

Noch ist nicht absehbar, wie stark ausgerechnet der Jahrgang 1964 die Großen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stellt. Viele Talente sind unterwegs. Ob sie sich durchsetzen, ist offen. Immerhin sind sie große Konkurrenz gewohnt – während des Studiums, in den ersten Berufsjahren oder beim Aufstieg. Die Konkurrenz könnte den Machtinstinkt und den Widerspruchsgeist befeuert haben. Jedenfalls hat eine, die nächstes Jahr 50 wird, beinahe die Hierarchie des "Spiegel" umgeworfen – die Publizistin und Erbin Franziska Augstein, die vehement gegen die Besetzung der Chefredaktion des Magazins durch einen früheren "Bild"-Mann opponierte. Durchgesetzt hat sie sich nicht.

(RP)
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