Ausblick auf 2016 Beginne jetzt!

Düsseldorf · 2015 war geprägt vom Andrang der Flüchtlinge. 2016 beginnt das Mammutprojekt Integration erst richtig. Zeit, aktiv zu werden statt über unsere angebliche Ohnmacht zu jammern.

 Es ist Zeit, aktiv zu werden statt über unsere angebliche Ohnmacht zu jammern.

Es ist Zeit, aktiv zu werden statt über unsere angebliche Ohnmacht zu jammern.

Foto: Bisterfeld

Es ist noch nicht lange her, da dachten die Deutschen, sie wären angekommen. Das Desaster des Zweiten Weltkriegs: 70 Jahre weit weg. Der lange Weg zur Wiedervereinigung: ein Vierteljahrhundert Vergangenheit. Deutschland heute: eine Super-Mega-Erfolgsgeschichte. Eine Weile waren die, die das mit geschaffen hatten, stolz, dass ihr Land nach Amerika zum zweitattraktivsten Ort geworden war, an dem Leute aus aller Welt gern leben würden. Alles schien überschaubar, planbar, und das fühlte sich sehr, sehr gut an. Die Deutschen dachten, das ginge immer so weiter. Sie dachten, sie könnten es sich gemütlich machen in einer Art Schweiz mit 80,5 Millionen Einwohnern.

Am Ende dieses Jahres leben 81,5 Millionen in diesem Land, und das hat gereicht, dass viele es kaum wiedererkennen.

Die nie geahnte Bereitschaft eines Heeres von Freiwilligen, bis zur Erschöpfung Massen von Menschen zu helfen, die nicht viel mehr besitzen als das, was sie auf dem Leibe tragen, jenes Musterbeispiel an staatsbürgerlicher Verantwortung, die noch immer entscheidend dazu beiträgt, den Kollaps der öffentlichen Verwaltung vor dem Ansturm der Flüchtlinge zu verhindern — das macht die eine Seite des neuen Abbildes der Nation aus.

Die andere Seite ist keineswegs ohne Beispiel, leider. Sie weckt Erinnerungen an eine Entwicklung, die derart schrecklich endete, dass die wenigsten dachten, ihre Anfänge würden je wieder mit solcher Wucht zutage treten: abgrundtiefes Misstrauen in den Staat, offene Verachtung von Eliten, das Aufblühen kruder Verschwörungstheorien, eine abstoßende Verrohung der Sitten und nicht zuletzt eine explosionsartige Ausbreitung von Gewalt gegen Fremde.

Die meisten Deutschen mögen das Gefühl noch kennen, was Teilung bedeutet. Doch wer hätte geglaubt, dass sie einmal so gespalten wären? Vor wem erschrecken sie in diesen Tagen mehr? Vor denen, die kommen? Oder vor sich selbst?

Wie auch immer: Die Angst ist zurück und damit Verzagtheit. Sehnsucht nach Kleinräumigkeit und regionaler Kontrolle überzieht ein Land, das einmal Vorreiter der großen Ideen von Offenheit und Grenzenlosigkeit war. Die Bürger Hamburgs, die ihre schöne Stadt gern als "Tor zur Welt" rühmen, haben es vor ein paar Wochen fertiggebracht zu verhindern, dass dort vielleicht 2024 die Olympischen Spiele ausgetragen werden. Damit sei Schaden von der Freien Hansestadt abgewendet worden, jubeln die siegreichen Organisatoren von "NOlympia". Wie gelähmt erschien das Aachener Karlspreis-Direktorium, das alljährlich Personen oder Institutionen auszeichnet, die sich um Europa verdient gemacht haben: Das Gremium zögerte ungewohnt lange mit der Entscheidung für den Preisträger 2016: zu schwierig, zu vieles im Fluss. Am Ende wurde es der Papst.

Doch wer hat je behauptet, es würde einfach? Oder es blieben uns Rückschläge erspart? Oder es warteten keine Zumutungen mehr? Für jene, die sich das vorstellten, hält 2015 ein paar harte Lehren bereit: Erstens: Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Zweitens: Nur dagegen zu sein, wenn es anders kommt, hilft nicht wirklich weiter. Wer einen Pfeil an die Wand wirft, eine Zielscheibe drumherum malt und meint, mitten ins Schwarze getroffen zu haben, liegt auch künftig daneben. Bedeutet drittens: Es bleibt anstrengend.

In Wahrheit war es nie anders. Es knirscht überall auf der Welt, und wenn es das in diesem Land seit geraumer Zeit weniger tat, so liegt dies unbestritten an den Fähigkeiten seiner Bewohner, Probleme anzupacken und sich, wenn es sein muss, selbst neu zu erfinden. Aber war nicht auch eine Riesenportion Fortune mit im Spiel? Anderen war weniger beschert, doch ihr Unglück erreichte uns nicht.

Jetzt schon.

Mit der Verunsicherung, die der tägliche Zustrom Tausender hervorruft, ist mancher erst einmal allein. Einsame Ratlosigkeit aber darf nicht die Oberhand gewinnen. Verhindern ließe sich das, wenn alle begriffen, dass es um eine Herausforderung geht, der sich niemand entziehen darf: die Politik nicht, die schnellstmöglich die Kontrolle über die Zuwanderung zurückgewinnen muss; die Wirtschaft nicht, die Hunderttausende Fremde in Lohn und Brot zu bringen, die Verwaltung nicht, die für eine menschenwürdige Unterbringung zu sorgen hat.

Schließlich: Jeder trägt jetzt eine Verantwortung, die ihm vorher so nicht auferlegt war: Sie verlangt Entschiedenheit und Courage, und sie besteht nicht nur darin, Leuten entgegenzutreten, die Lügen, Hetze und Hass verbreiten. Sie besteht auch darin, denen, die gekommen sind, die Erwartung klarzumachen, dass sie nicht bloß unter uns, sondern mit uns leben sollen; dass sie also den Werten dieses Landes verpflichtet sind. Eine Aufgabe, die nicht nur das Jahr 2016 bestimmen wird.

Es gibt einen Gedanken, der dem großen Johann Wolfgang von Goethe zugeschrieben wird, und der an alle gerichtet war, denen der Mut mitunter sank. Ein paar Sätze, 200 Jahre alt, die großartig in diese Gegenwart passen:

"In dem Augenblick, in dem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung auch. Alle möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung, und er sorgt zu den eigenen Gunsten für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen und materielle Hilfen, die sich kein Mensch vorher je so erträumt haben könnte. Was immer du kannst, oder dir vorstellst, dass du es kannst, beginne es. Kühnheit trägt Genius, Macht und Magie. Beginne jetzt."

Beginnen wir also. Beginnen wir jetzt.

(bew)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort