Serie 100 Jahre Erster Weltkrieg Als August Becker in den Krieg zog

Düsseldorf · Ein junges Brautpaar wird auseinandergerissen, ein Schüler wird mit 16 Jahren zum gnadenlosen Frontkämpfer, in der Heimat wird gebangt und gehungert. Persönliche Schicksale erzählen den Krieg im Rheinland.

 Die Brauleute Paula Meschede und August Becker Anfang August 1914 im Neusser Fotostudio Jähne.

Die Brauleute Paula Meschede und August Becker Anfang August 1914 im Neusser Fotostudio Jähne.

Foto: Montage: RP, Fotos: Privat, DPA

Vier junge Männer in Feldgrau starren in die Kamera, in den Händen halten sie die üblichen Requisiten: Bierkrug und Tabakspfeife. Einer hat eine Schiefertafel zu seinen Füßen, auf der mit Kreide geschrieben steht: "Auf Wiedersehn." Der Mann heißt August Becker, er ist 23 Jahre alt und stammt aus Neuss. Einer aus der Gruppe wagt ein Lächeln, aber Beckers Blick ist ernst. Auf die Rückseite des Fotos hat er ein paar liebevolle Zeilen an seine Verlobte Paula Meschede gekritzelt und das Datum: 28. August 1914. Das Foto wurde in einer Kaserne in Wesel aufgenommen. Von hier aus zog August Becker kurz darauf in den Krieg.

Andere mögen damals gejubelt haben in patriotischem Überschwang, August Becker nicht. Eigentlich hatte er seine Paula im September heiraten wollen. Doch dann schob sich der Einberufungsbefehl wie eine dunkle Wolke über das Leben der beiden jungen Leute und ihre gemeinsame Zukunft, die kaum begonnen hatte. Wie um das Schicksal zu beschwören, treffen sich August und Paula, kurz bevor er den Zug nach Wesel besteigen muss, noch im Foto-Atelier Jähne an der Krefelder Straße. Eine Aufnahme des Brautpaars, das erste gemeinsame Foto, wird arrangiert. August trägt bereits die Uniform, aber diesmal sind keine Bierhumpen im Bild, dafür liegt ein Familienalbum auf dem Tisch zwischen den beiden jungen Leuten. Ein Symbol für den Wunsch nach Kindern.

Kein Happy End für Paula und August

Die beiden haben sich vier Jahre später wiedergesehen, aber ein Happy End war August und Paula dennoch nicht vergönnt. An der Front wird der junge Mann schwer verletzt: Giftgas. Nach dem Lazarettaufenthalt wird August Becker nie wieder einen Schuss abgeben. Bis zur Kapitulation 1918 füttert und striegelt er weit hinter der Front Artillerie-Pferde. Nach dem Krieg kann er seine Paula endlich heiraten, die beiden bekommen ihr erstes Kind, eine Tochter. Seine Frau ist zum zweiten Mal schwanger, als August Becker 1921 plötzlich erkrankt und stirbt. Seine Kriegsverletzung hat ihn doch noch umgebracht.

Die Schrecken des Krieges. Das undatierte Bild zeigt Soldaten beim Sturmangriff.

Die Schrecken des Krieges. Das undatierte Bild zeigt Soldaten beim Sturmangriff.

Foto: dpa, dpa

Zwischen Hoffen und Bangen warteten die Angehörigen in der Heimat auf die Feldpost von Vätern und Söhnen. Nach außen gab man sich patriotisch, es wurde viel vom "Heldentod" schwadroniert. Die Todesanzeigen, die die Spalten der Zeitungen zu füllen begannen, wurden garniert mit Formulierungen wie "in stolzer Trauer". In den Schulen wurden schwülstige Lieder angestimmt, erinnert sich Emma Bross, die ihre Erlebnisse aus der Kriegszeit zu Papier brachte, bevor sie 2003 im Alter von 100 Jahren in Burscheid starb. "Trocknet die Tränen, ihr trauernden Frauen!", sang sie im Schulchor. "Eure Helden, die herrlichen, schauen freudig und segnend auf euch herab. Heilig das Schwert, das die Feinde getötet! Heilig das Blut, das die Erde gerötet. Heilig der Helden glorreiches Grab! Sieg, Sieg, Sieg!"

Tausende Freiwillige aus dem Rheinland

In diesem Geist erzogen, melden sich sofort nach Kriegsausbruch auch im Rheinland Tausende junger Männer freiwillig an die Front, manche direkt von der Schulbank. So tritt auch Hermann Boeddinghaus aus Stolberg am 8. August 1914 als Kriegsfreiwilliger in das Ersatzbataillon des 28. Infanterie-Regiments ein. Er ist zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 16 Jahre alt. Der Krieg ist für ihn ein großes Abenteuer. Aus den Briefen, die er an seine Eltern schreibt, die ihn "nicht leichten Herzens, aber stolz" haben ziehen lassen, spricht Unbekümmertheit — und auch Grausamkeit. Am 19. Januar 1915 schreibt Boeddinghaus aus Frankreich und schildert, wie er auf nächtlicher Patrouille einen französischen Soldaten überrumpelt hat, der sich ihm ergibt. "Er jammerte und heulte und rief 'Pardon, Monsieur'. Eigentlich hätte ich ihn ja gefangen nehmen sollen. Ich erschoss ihn aber, weil mir der Transport zu lästig war."

Sie oder wir in den Schützengräben

Dass dieser Krieg nicht der angekündigte Spaziergang wird, ist spätestens Ende 1914 klar. In den Schützengräben an der Front heißt es nur noch: sie oder wir. "Wir sind zu unserer eigenen Sicherheit gezwungen, die ganze feindliche Vorpostenkompanie niederzumachen", erinnert sich der Kevelaerer Gärtnermeister Heinrich Danners noch Jahre später an einen Hinterhalt, den sein Stoßtrupp 1914 in den französischen Argonnen gelegt hat. "Es darf keiner lebend zurück, sonst sind wir alle verloren." Im Jahr darauf ist er mit seinen Leuten einmal sieben Tage von jedem Nachschub abgeschnitten, er ernährt sich von "Birkenwurzeln und Rinde".

Auch solche Details gelangen über ein bis in die letzten Wochen des Krieges mit geradezu unheimlicher Präzision funktionierendes Feldpostsystem in die Heimat — auch wenn die Militärzensoren die Briefe häufig mit dicker schwarzer Tinte verstümmeln und viele Soldaten das Grauen in betont munterem Tonfall verkleistern. "Hier geht es schrecklich zu, bin allerdings noch gesund, ob morgen, weiß ich nicht", schreibt der Gefreite Ferdinand Nötges aus Hüls bei Krefeld Ende Juli 1915 von der Ostfront. Von seiner Kompanie, die einst mit 296 Mann ins Feld zog, sind noch 22 übrig. "Aber die Hauptsache, wir haben uns tüchtig geschlagen!" Anfang September 1915 wird Ferdinand Nötges schwer verwundet und stirbt im Lazarett. Im selben Jahr fallen zwei weitere Söhne der Familie.

Kein Krieg auf deutschem Boden

Der Krieg findet nicht auf deutschem Boden statt. Und dafür sind die deutschen Soldaten als allererste dankbar, denn sie erleben die Verwüstungen unmittelbar mit. "Wie das hier aussieht", schreibt der Schreiner Wilhelm Lankes aus Haverslohe Ende August 1917 von der Westfront, "da kann sich keiner einen Begriff von machen. Die Häuser sind alle zerschossen. Der Acker ist derart zerwühlt, dass die armen Leute denselben auch nicht mehr bebaubar bekommen. Gott sei Dank, dass der Feind nicht bei uns hereingekommen ist."

Trotzdem, der Krieg ist überall im Rheinland präsent: Verwundete belegen die Hospitäler, die Züge sind mit Nachschub für die Front vollgestopft, auf den Bauernhöfen werden Pferde für die Truppe requiriert. Die britische Seeblockade führt vielfach zu echter Hungersnot. Josephine Thönnissen aus Ramrath hat vor ihrem Tod ihrer Tochter immer wieder von dieser schweren Zeit berichtet. Während des Krieges arbeitet die junge Frau in der Schokoladenfabrik Feldhaus an der Kölner Straße in Neuss. Aber selbst hier geht es karg zu. Alle sechs Wochen hat Josephine Thönnissen einen Sonntag frei; dann radelt sie zu ihren Eltern und ist dankbar für einen Beutel mit Schwarzbrotresten, die diese sich für die Tochter vom Munde abgespart haben.

Angesichts der Not überwiegt bei vielen Menschen die Erleichterung, als es im November 1918 zum Waffenstillstand kommt. Gleichzeitig herrscht Angst vor der Zukunft. "Weiter haben wir nichts gehört von der Heimat als dunkle Gerüchte von Umsturz und Unruhen", schreibt am 23. November 1918 der Düsseldorfer Schustersohn Franz Nilges vom Rückzug aus den Ardennen. Eine dunkle Vorahnung.

(RP)
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