Toronto Auf dem Seil über die Niagara-Fälle

Toronto · Seit dem Jahr 1896 versucht erstmals wieder ein Hochseilartist, die Niagara-Fälle zu überqueren. In einer Höhe von 70 Metern will Nik Wallenda 600 Meter auf dem Seil zurücklegen – von der amerikanischen auf die kanadische Seite. Das Spektakel soll der Region 120 Millionen Dollar einbringen.

Am Ende musste Nik Wallenda nachgeben. Ein wenig jedenfalls. Wenn sich der 33-jährige Amerikaner morgen Abend mit seiner Balancierstange auf den Weg ans andere Ufer der Niagarafälle macht, dann wird er sich einen Sicherheitsgurt um die Taille schnallen. Nicht etwa, weil er es wollte oder weil er Angst vor der Höhe hätte. Sondern weil seine Sponsoren und die TV-Sender es verlangen. Sie wollen sichergehen, dass die Show des Jahres glücklich endet. Wallenda ist einer der besten Hochseilartisten der Welt. Das Spiel mit dem Tod gehört zu seinem Mythos. Doch weil Wallenda seit seiner Kindheit von dem Stunt geträumt hat, fügt er sich. Dieses eine Mal.

Wallenda wird morgen etwas tun, was seit über 100 Jahren kein anderer Mensch mehr gewagt hat. Auf einem fünf Zentimeter dünnen Hochseil wird er die Niagara-Fälle überqueren, die zu den bekanntesten Touristenmagneten der Welt gehören. Etwa eine halbe Milliarde Menschen werden das Ereignis angeblich an ihren Bildschirmen verfolgen. Vor Ort in Kanada und den USA sind mehr als 120 000 Besucher live mit dabei.

Wenn alles gut geht, soll der Stunt 45 Minuten dauern. Wallenda will mit speziellen Wildlederschuhen auf der amerikanischen Seite der Fälle das Hochseil besteigen und dann über 600 Meter an das kanadische Ufer tänzeln. Über einen Sender im Ohr hält er Verbindung zum Team, 70 Meter über dem Abgrund, die rauschenden Wasserfälle stets im Rücken. "Ich werde durch die Gischt balancieren, im Nebel verschwinden und erst ganz zum Schluss wieder auftauchen."

Selbst mit Gurt ist es ein besonderer Nervenkitzel. Zwar hat Wallenda Wolkenkratzerschluchten bezwungen, Flüsse überquert, auf Riesenrädern getanzt und hat es im Guinnessbuch auf sechs Weltrekorde gebracht. Doch die Niagara-Fälle sind eine andere Nummer. Zahllose Menschen haben hier ihr Leben gelassen. In Booten, in Fässern – oder auf dem Hochseil. Der kanadische Drahtseilartist Stephen Peer stürzte 1887 in den Tod, nachdem er die Fälle zuvor mehrere Male bezwungen hatte.

Auch in Wallendas Familie liegen Triumph und Tragik dicht beisammen. Nik Wallenda balanciert seit seinem vierten Lebensjahr über das Seil. Sein Urgroßvater Karl, der die legendäre Artistenfamilie "Flying Wallendas" begründete, stürzte 1978 mit 73 Jahren bei einem Stunt zwischen Hochhäusern in Puerto Rico ab und starb. Es ist nicht das einzige tragische Unglück. Bei einer Aufführung in Detroit sackte in den 60ern eine Menschenpyramide der Wallendas in sich zusammen, zwei Artisten bezahlten das mit ihrem Leben. Trotzdem hat die Familie immer weiter gemacht.

Über 20 Jahre lang hat Nik Wallenda bei Politikern in den USA und Kanada für seine Niagara-Aktion geworben. Denn eigentlich sind Stunts an den Fällen verboten. Der letzte, dem eine Überquerung gestattet wurde, war James Hardy im Jahre 1896. Am Ende dürfte Wallenda die Politiker mit Zahlen beeindruckt haben. Insgesamt 120 Millionen Dollar soll seine 45-Minuten-Aktion in die Kassen diesseits und jenseits der Grenze spülen. Hotels und Restaurants sind ausgebucht. Betuchte Zuschauer zahlen tausende Dollar für ihr VIP-Ticket mit exklusivem Blick in die Gischt. TV-Sender investieren Millionen in die Übertragungsrechte.

Das Spektakel ist mittlerweile so groß geworden, dass selbst ein Wallenda nicht mehr alles unter Kontrolle hat. Sein Budget hat er um eine Viertelmillion Dollar überzogen. Und dann noch die Sache mit dem Gurt. Morgen Abend wird Wallenda den Gurt anlegen, wie verlangt. Falls sich dieser unterwegs aber als unbequem oder hinderlich herausstellen sollte, will er ihn noch während der Überquerung abwerfen. Auflagen hin oder her. Schließlich ist er ein Wallenda. Und fühlt sich niemandem verantwortlich – außer sich selbst.

(RP)
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