Menschenrechtsreport 2014 Amnesty: Größte Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg

Düsseldorf · Amnesty International gibt der Weltgemeinschaft für 2014 vernichtende Noten. Eskalierende Konflikte und bewaffnete Gruppen wie IS und Boko Haram haben zur größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Die Weltgemeinschaft habe versagt. Sie habe keine Antworten auf Gewalt und Terror.

Amnesty-Report 2014: Die größten Konfliktherde
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Foto: afp, KLC/RBZ/ljm

Die größte Menschenrechtsorganisation Amnesty International beschreibt das Jahr 2014 als besonders verhängnisvoll: Mehr Flüchtlinge, mehr Terror und Gewalt durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen, eskalierende Konflikte wie in der Ukraine mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung, mehr Überwachung im Westen mit dem Verweis auf den "Krieg gegen den Terror" als Vorwand.

Sechs Millionen mehr Flüchtlinge

Im vergangenen Jahr seien weltweit rund 57 Millionen Menschen auf der Flucht gewesen. Das sind sechs Millionen Mehr als im Vorjahr, heißt es im nun veröffentlichten Amnesty-Bericht zur Lage der Menschenrechte für 2014. Dabei werden laut Amnesty 95 Prozent der Flüchtlinge in Nachbarländern aufgenommen.

In diesen Ländern gibt es gefährliche IS-Ableger
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Allein der Libanon habe bislang eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen. Dies stelle für einen Staat mit einer Gesamtbevölkerung von 4,3 Millionen eine enorme Belastung dar. "Wir brauchen mehr Unterstützung für die Nachbarstaaten und deutlich mehr Aufnahmeplätze in der EU", forderte die deutsche Amnesty-Generalsekretärin Selmin Caliskan.

IS-Terror wächst

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Foto: afp, am/MM

Als "besonders besorgniserregend" wertet Amnesty International die wachsende Macht von nicht-staatlichen Gruppen wie dem "Islamischen Staat" (IS) und Boko Haram. In ihrem Bestreben quasi-staatliche Strukturen zu erlangen machten sie kein Halt vor etablierten Regierungen und Landesgrenzen.

Gerade der Terror in Syrien und Irak gilt für Amnesty International als eine der größten Bedrohungen für die Menschenrechte mit weltweiten Auswirkungen. Mit Massenhinrichtungen, versklavten Mädchen und Frauen und zu Propagandazwecken gefilmten Enthauptungen sorgen sie für weltweites Entsetzen.

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Foto: afp, MR/RT

Staatliche Gewalt bleibt vielerorts

Doch nicht nur Terroristen quälten die Bevölkerung mit Anschlägen, Morden und Folter. Praktisch im selben Atemzug nennen die Menschenrechtler die Reaktionen von Regierungen. "Von Baga (im nigerianischen Bundesstaat Borno) bis Bagdad (im Irak) haben Regierungschefs versucht, Menschenrechtsverletzung zu rechtfertigen mit Reden von der Notwendigkeit, die Welt "sicher" zu machen", kritisiert Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty.

In Syrien hätten die Schreckenstaten des IS für eine Weile abgelenkt von der Gewalt der Regierungskräfte, heißt es in dem Bericht. Diese setzten Fassbomben ein, griffen Krankenhäuser an und blockierten die Versorgung Unbeteiligter mit Nahrung, Wasser und Medikamenten. Den Fassbomben-Vorwurf hat Präsident Baschar al-Assad erst vor rund zwei Wochen in einem BBC-Interview als "kindisch" zurückgewiesen. Allerdings erheben ihn auch andere Gruppen, etwa Human Rights Watch.

In Nigeria leidet die Bevölkerung ebenfalls unter staatlicher Gewalt. "Gemeinden, die seit Jahren von Boko Haram terrorisiert werden, sind zunehmend Übergriffen der staatlichen Sicherheitskräfte ausgesetzt, die regelmäßig mit außergerichtlichen Tötungen, willkürlichen Massenfestnahmen und Folter geantwortet haben", schreibt Amnesty.

Im Irak habe die Regierung angesichts des Terrors schiitische Milizen auf sunnitische Gemeinden "losgelassen", die angeblich mit dem IS sympathisierten. Alleine von Januar bis Oktober habe der Konflikt im Irak 10.000 Zivilisten das Leben gekostet. Auch unter der neuen Regierung kämen bei Luftangriffen auf IS-Gebiete Zivilisten um.

Angesichts der großen Krisen blieben aber auch Krisenregionen und Verstöße gegen die Menschenrechte in vielen Ländern fast unbeachtet. So versinkt seit zwei Jahren Zentralafrika in religiöse Gewalt. Morde, Verstümmelung, Entführungen, Rekrutierung von Kindersoldaten und Massenvertreibungen stünden dort auf der Tagesordnung. Und in Bangladesch sind seit der Parlamentswahl im vergangenen Jahr Dutzende Menschen spurlos verschwunden.

Schlechtes Zeugnis für die Weltgemeinschaft

Angesichts der verheerenden Menschenrechtslage in vielen Ländern kritisiert Amnesty International das Krisenmanagement der Weltgemeinschaft scharf. Der Weltsicherheitsrat habe als Instrument versagt. Ihr fehlten die Mittel, um die dringenden Probleme unserer Zeit zu lösen. Auch die Europäische Union (EU) stecke ihren Kopf in den Sand, etwa beim Umgang mit der Flüchtlingssituation im Mittelmeer. Auch für 2015 sieht Amnesty schwarz.

Generalsekretär Salil Shetty forderte die fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates (USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien) auf, in Fällen von Völkermord und ähnlichen schweren Verbrechen ihr Vetorecht aufzugeben. "Der Weltsicherheitsrat hat in Syrien, im Irak, in Gaza, Israel und der Ukraine versagt", heißt es im Jahresbericht der Organisation, der die Menschenrechtssituation in 160 Ländern der Welt untersucht hat. Durch eine Aufgabe des Vetorechtes erhielte der Weltsicherheitsrat größeren Spielraum, Zivilisten in bewaffneten Konflikten zu schützen.

Die Vereinten Nationen seien vor 70 Jahren geschaffen worden, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie im Zweiten Weltkrieg nie wieder geschehen zu lassen. "Wir sehen jetzt Gewalt im riesigen Maßstab und eine dadurch entstandene enorme Flüchtlingskrise", sagte Shetty. Die Weltgemeinschaft habe absolut versagt, brauchbare Lösungen für die dringendsten Notwendigkeiten der Gegenwart zu finden.

Die Regierungen müssten endlich aufhören so zu tun, als ob sie die Rechte von Zivilisten nicht gewährleisten könnten. "2014 war ein katastrophales Jahr für Millionen, die in gewaltsame Auseinandersetzungen geraten sind", heißt es in dem Bericht. "Die weltweite Antwort von Staaten und bewaffneten Gruppierungen war beschämend."

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