Anschlag beim Marathon Boston — ein Jahr nach dem Bombenterror

Boston · Achtzehn Stufen sind es für Roseann Sdoia bis zu ihrer Wohnung – sechs bis zur massiven Eingangstür des Altbaus, dann weitere zwölf bis zu ihrem Apartment. Kein einfacher Gang für jemanden mit Beinprothese. Dennoch blieb die 46-Jährige, die bei dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon vor einem Jahr ihr rechtes Bein verlor.

Boston-Marathon: 78-Jähriger stürzt und schafft es ins Ziel
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Achtzehn Stufen sind es für Roseann Sdoia bis zu ihrer Wohnung — sechs bis zur massiven Eingangstür des Altbaus, dann weitere zwölf bis zu ihrem Apartment. Kein einfacher Gang für jemanden mit Beinprothese. Dennoch blieb die 46-Jährige, die bei dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon vor einem Jahr ihr rechtes Bein verlor.

"Anfangs haben mir ganz viele Leute geraten, aus der Stadt fort zu ziehen. Die vielen Stufen, kein Fahrstuhl und Parkplätze gibt es auch nicht viele in der Nähe", sagt sie. "Aber ich habe all das überwunden." Damit geht es der Immobilienmanagerin wie der Stadt selbst.

"Ehrlich gesagt ist Boston heute eine bessere Stadt als damals", sagt der damalige Bürgermeister Thomas Menino. "Die Menschen haben gelernt, miteinander klar zu kommen und mit einer Tragödie fertig zu werden."

Drei Tote, mehr als 260 Verletzte

Leicht war das nicht. Bei dem Bombenanschlag am 15. April 2013 starben drei Menschen, über 260 wurden verletzt, anschließend wurde über die Stadt eine Ausgangssperre verhängt, während die Tatverdächtigen gejagt wurden.

Verhaftet wurde letztlich der tschetschenisch-stämmige Dschochar Zarnajew. Der 20-Jährige muss sich vor einem Bundesgericht in 30 Anklagepunkten verantworten. Der mutmaßliche Mittäter, sein 26-jähriger Bruder Tamerlan, starb bei einem Schusswechsel mit der Polizei.

Boston hat es geschafft, die Vergangenheit abzuschütteln. Der Copley Square, wo die Bomben nahe der Ziellinie des Marathons explodiert waren, ist längst nicht mehr übersät mit Tributbekundungen an die Opfer.

 Roseann Sdoia hat bei dem Angriff ein Bein verloren.

Roseann Sdoia hat bei dem Angriff ein Bein verloren.

Foto: ap

Aber das Geschehen ist weder vergessen noch völlig verarbeitet. Sdoia beispielsweise ist eigentlich eine fröhliche Frau mit strahlendem Lächeln, aber sie muss jeden Tag weinen, sagt sie: "So langsam wird mir bewusst, wie sich das Leben verändert hat."

Sdoia stand an der Ziellinie und feuerte Freunde an, als die zweite Bombe explodierte, was bei ihr neben dem Verlust des Beins auch einen Hörschaden auslöste. Sie sagt: "Ich bin immer noch ich." Trotzdem: Es hat sich viel verändert. Sie brauchte mehr Urlaub von der Arbeit, die sie eigentlich liebt. Die Winterzeit und der viele Schnee waren sehr schwierig für sie, einfache Alltagsdinge wie Duschen oder Staubsaugen muss sie heute anders angehen als früher.

Auch Marc Fucarile wird den 15. April nicht mehr vergessen. Der 35-jährige Dachdecker verlor das rechte Bein oberhalb des Knies, er hat Schrapnellsplitter im Herzen, und ob er sein linkes Bein behalten kann, ist noch nicht sicher.

"Alles hat sich verändert", sagt er. "Wie ich auf die Toilette gehe, wie ich dusche, wie ich mir die Zähne putze, wie ich ins Bett gehe und wieder aufstehe."

"Im Schnee kann ich mich nicht bewegen"

Sein sechsjähriger Sohn Gavin begreift nicht immer, was mit seinem Vater geschehen ist. "Gavin sagt: 'Hey, wollen wir nicht draußen spielen?' und ich muss ihm erklären: 'Draußen liegen 30 Zentimeter Schnee. Im Schnee kann ich mich nicht bewegen. Tut mir leid, Kleiner, aber wir können jetzt nicht rausgehen und spielen.' Es bricht mir das Herz."

Fast 61 Millionen Dollar an Spenden sammelte der One Fund vergangenes Jahr in den ersten drei Monaten nach den Bomben ein. Weitere 12 Millionen Dollar kamen in den fünf Monaten danach zusammen. One Fund war von Bürgermeister Menino und dem Gouverneur von Massachusetts, Deval Patrick, für die Opfer des Anschlags ins Leben gerufen worden. Diese Großzügigkeit ist mit einem trotzigen Stolz gepaart, für den sinnbildlich der Slogan "Boston Strong" steht - und der mit einer verblüffenden Menge an Merchandising einherging.

"Unmittelbar nach dem Anschlag war es ein friedliches Mantra, das die Menschen wiederholen und an das sie glauben konnten", sagt Dan Soleau, Markenentwickler bei Marathon Sports. "Wenn man es sich nur häufig genug vorspricht, es twittert und mit Hashtag versehen in die Welt schickt, wird es schon irgendwann wahr."

Nach den Bomben ließen sich über 600 Menschen im Boston Medical Center psychologisch betreuen. Der Großteil benötigte nach wenigen Monaten keine Hilfe mehr, im Vorfeld des ersten Jahrestags registriere sie doch wieder mehr Aktivität, sagt die beim Zentrum beschäftigte Sozialarbeiterin Jennifer Lawrence. Aber "die absolute Mehrheit" der Hilfesuchenden werde auch dieses Jahr am beliebten Bostoner Marathon teilnehmen, sei es als Läufer oder als Zuschauer, so Lawrence.

Auch William Evans wird dabei sein. 18 Mal ist er den Marathon gelaufen, zuletzt im vergangenen Jahr. Statt Laufkleidung wird er dieses Jahr aber Uniform tragen, denn William Evans ist Bostons aktueller Polizeichef. Um für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen, werden über 3500 Sicherheitskräfte im Einsatz sein, mehr als doppelt so viele wie vergangenes Jahr, dazu gibt es mehr Überwachungskameras und mehr Sprengstoffspürhunde.

"Ich will, dass alles glatt geht", sagt Evans. "Niemand soll verletzt werden. Eine Wiederholung der Tragödie von damals will ich nie wieder erleben."

(ap)
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