Prozess gegen Boston-Attentäter Zarnajew Staatsanwalt: "Er hatte Mord in seinem Herzen"

Boston · Ist er ein kaltblütiger Fanatiker des Terrors? Oder ein willensschwacher Teenager, der sich von seinem dominanten Bruder zu einem Verbrechen anstiften ließ, das er allein nie begangen hätte? Dschochar Zarnajew soll eine der beiden Rucksackbomben gezündet haben, die beim Boston-Marathon im April 2013 drei Menschen getötet und mehr als 260 verletzt haben. Nun hat der Prozess gegen ihn begonnen.

Boston: Erster Prozesstag gegen Attentäter Dschochar Zarnajew
5 Bilder

Erster Prozesstag gegen Boston-Attentäter Dschochar Zarnajew

5 Bilder

Mit acht Jahren kam Zarnajew, der tschetschenische Wurzeln hat, in die USA. Der Junge war schnell beliebt in der Schule und später an der Uni — anders als Tamerlan, sein Bruder. Der träumte von einer Karriere als Profiboxer, erreichte sein Ziel aber nicht und begann wohl auch aus Verbitterung, mit radikalislamischen Ideen zu sympathisieren. Bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei kam der 26-Jährige ums Leben.

Dschochar, wird die Verteidigung argumentieren, stand förmlich im Bann des Älteren, der ihn steuerte wie einen Roboter. Doch die Worte, die er kurz vor seiner Festnahme an die Innenwand eines Bootes gekritzelt haben soll, in dem er sich vor der Polizei versteckte, lassen andere Schlüsse zu: "Die US-Regierung tötet unsere unschuldigen Zivilisten." Dies dürfe nicht ungesühnt bleiben. In einem schwer bewachten Gerichtsgebäude in Boston begann am Mittwoch das Verfahren gegen Zarnajew.

Dschochar Zarnajew vor Gericht in Boston
8 Bilder

Dschochar Zarnajew vor Gericht in Boston

8 Bilder

Zwei Drittel der Bostoner gegen Hinrichtung

Vorangegangen war eine Auslese der Jury, die allein schon für heftige Debatten sorgte. "Ich glaube, das ist etwas, womit ich zu kämpfen hätte", sagte etwa der Kandidat mit der Nummer 43, Pharmalaborant und einer von 1373 potenziellen Geschworenen, die Anfang Januar zur Wahl standen. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich so gestrickt bin, dass ich zu jemandes Tod beitragen kann." Wird Zarnajew für schuldig befunden, kann es die Todesstrafe bedeuten. Wer der 18-köpfigen Jury angehören wollte, sechs Ersatzleute inbegriffen, durfte ein solches Urteil also nicht grundsätzlich ablehnen.

Der Boston-Attentäter und sein Umfeld
20 Bilder

Der Boston-Attentäter und sein Umfeld

20 Bilder

Nach einer Umfrage des "Boston Globe" sind zwei Drittel der Bostoner dagegen, den Angeklagten zu exekutieren. 1984 hat Massachusetts die Todesstrafe aus seinen Statuten gestrichen. Zarnajew aber steht vor einem Bundesgericht, in seinem Fall gelten die Gesetze der amerikanischen Föderation, und die lassen eine Hinrichtung explizit zu.

Der Staatsanwaltschaft zufolge hegte der mittlerweile 21 Jahre alte Zarnajew Mordgelüste. Er habe sich bei dem Traditionslauf als Zuschauer ausgegeben, doch "er hatte Mord in seinem Herzen", sagte Staatsanwalt William Weinreb. Er zeichnete in seinem Eröffnungsplädoyer das Bild eines radikalisierten jungen Mannes mit extremistischen muslimischen Idealen.

Die Festnahme des Boston-Attentäters Zarnajew
8 Bilder

Die Festnahme des Boston-Attentäters Zarnajew

8 Bilder

Die Schwierigkeit, eine neutrale Jury zu finden

Verteidigt wird Zarnajew von Judy Clarke, einer Spitzenanwältin, die schon andere Todeskandidaten vor der Giftspritze bewahrte, zum Beispiel Eric Rudolph und Jared Loughner. Rudolph hatte 1996 im Olympiapark von Atlanta einen Sprengsatz gezündet, Loughner 2011 vor einem Supermarkt in Tucson ein Blutbad angerichtet und die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords so schwer verletzt, dass sie Monate brauchte, um wieder sprechen zu lernen. In Boston drang Clarke immer wieder darauf, die Verhandlung an einen anderen Ort zu verlegen.

Die Marathon-Bomben, gab sie zu bedenken, hätten die Stadt am Nerv getroffen, so dass es unbefangene Geschworene praktisch nicht geben könne: "Jeder in der Region ist im Grunde selber ein Opfer." Viermal in Folge schmetterte George O'Toole, der zuständige Richter, Clarkes Ansinnen ab. Wie schwer es ist, in Boston eine neutrale Jury zu finden, auch das machte der Auswahlmarathon klar.

Da war die Kandidatin Nummer 40, klug, aufgeschlossen und unvoreingenommen. Mit dem Peace Corps half sie als Freiwillige in Nepal, daheim setzte sie sich für Schwulenrechte ein und kämpfte für bessere Schulen. Doch als O'Toole die Frau nach persönlichen Verbindungen zu Opfern des Attentats fragte, musste sie lange um Fassung ringen. Sie kannte Martin Richard, den jüngsten der drei Toten; der Achtjährige hatte in ihrem Viertel gelebt. Als Unparteiische war sie damit ausgeschieden.

(fh)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort